URI: 
       # taz.de -- Reform der katholischen Kirche: Der feste Glaube an Veränderung
       
       > Seit drei Jahren arbeitet der Synodale Weg, eine Versammlung von
       > Katholik:innen, an einer Reform der Kirche. Wie weit werden sie kommen?
       
       Münster, Rüdesheim, Berlin taz | Mara Klein tritt in die Pedale, düst an
       Backsteinvillen und Baustellen vorbei über das Unigelände in Münster. Es
       ist Herbst, an diesem Montagmorgen leuchten die gelben Blätter in einer
       müden Sonne. Klein, 27 Jahre, Topfschnitt, tätowiert, springt ab, schließt
       das Rad fix an und eilt ins Büro: Viel zu tun!
       
       An der Tür des grauen Zweckbaus steht Institut für Christliche
       Sozialwissenschaften, hier schreibt Klein an einer Doktorarbeit, die Uhr
       der Projektförderung tickt. Und im E-Mail-Postfach wartet außerdem der
       Satzungsentwurf des Synodalen Ausschusses. Um den durchzuarbeiten, bleiben
       nur noch ein paar Tage.
       
       In der Wissenschaft, wie auch im Reformausschuss der katholischen Kirche,
       geht es für Mara Klein um Anerkennung. Um die von queeren Menschen in der
       Kirche, um die persönliche Anerkennung als Katholik:in, auch wenn Klein
       sich nicht in den Kategorien Mann und Frau verorten möchte. „Man sollte den
       Konservativen jetzt nicht die Zeit lassen, aufzuatmen und zurückfallen ins
       Alte“, sagt Klein.
       
       Mit „jetzt“ meint Klein eine Reformbewegung innerhalb der deutschen
       katholischen Kirche, den sogenannten Synodalen Weg. Am Freitag und Samstag
       konstituiert sich der Synodale Ausschuss in Essen. Es geht um die Rolle von
       Frauen und die Zukunft des Priesteramts, um die kirchliche Sexuallehre, um
       Machtstrukturen. Vor allem geht es um dauerhafte Mitbestimmung durch einen
       Synodalen Rat, den der Ausschuss einsetzen soll. Synode kommt aus dem
       Altgriechischen und bedeutet „Versammlung“.
       
       Etwa 230 Katholik:innen, darunter alle 69 deutschen Bischöfe, viele
       Ordensleute und Ehrenamtliche, die wie Mara Klein von katholischen
       Verbänden delegiert wurden, sitzen seit 2020 in diesem Prozess in
       verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen. Ausgangspunkt war die Frage, wie
       systemische, sexualisierte Gewalt in der Kirche verhindert werden kann. Die
       Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und die Organisation der Lai:innen, das
       Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZDK), finanzierten den Prozess.
       Immerhin ein Viertel der Bevölkerung, etwa 21 Millionen Menschen, gehören
       der katholischen Kirche hierzulande noch an. Viele stehen ihr gleichgültig
       gegenüber. Einige bringen sich mit sehr viel Einsatz ein.
       
       So wie Mara Klein. Klein kämpft für den Reformprozess, auch gegen
       konservative Beharrungskräfte: Sie stellen die gleichberechtigte
       Mitbestimmung von Lai:innen als „protestantisch“ infrage, von
       „häretischen Positionen“ sprach kürzlich der ehemalige Regensburger Bischof
       und Kardinal Gerhard Müller, eine umstrittene, aber einflussreiche Stimme
       im Vatikan. Was auf dem Synodalen Weg in Deutschland passiert, findet
       mittlerweile in der ganzen katholischen Welt Beachtung.
       
       Bei der vierten Vollversammlung der Synodal:innen 2022 in Frankfurt –
       die wichtige Reformvorhaben beschließen sollte – kam es zum Eklat, als eine
       größere Gruppe von konservativen Bischöfen eine entscheidende
       Beschlussvorlage zur Anerkennung von queeren Lebensweisen durch die geheime
       Abstimmung fallen ließ. Vier Theologinnen legten vor der fünften
       Vollversammlung im März unter Protest ihr Mandat nieder. Immer wieder
       sprechen Beobachter:innen vom Scheitern des ganzen Prozesses.
       
       Den [1][Synodalen Ausschuss], der sich nun am Wochenende in Essen trifft
       und der die 2020 begonnene Mitbestimmung verstetigen soll, versuchte ein
       Grüppchen konservativer Bischöfe komplett zu verhindern. In der
       Bischofskonferenz konnten sie im Juni die notwendigen Gelder blockieren –
       denn deren Satzung verlangt Einstimmigkeit. Sie schrieben nach Rom. Und
       bekamen die Antwort, die sie wollten: Der Vatikan verbot den dritten und
       finalen Schritt des Reformwegs, den der Ausschuss erreichen soll: die
       Einsetzung eines dauerhaften Synodalen Rats.
       
       Dennoch treffen sich Mara Klein und rund 70 andere Synodal:innen in
       Essen, weil sie die Idee eines ständigen Beirats nicht aufgeben wollen –
       allen Ansagen aus Rom zum Trotz. Bis auf vier unterstützen alle 27
       Diözesanbischöfe, das sind die Leiter der deutschen Bistümer, die
       Versammlung.
       
       Was treibt Mara Klein an, trotz aller Widerstände in der Kirche und in
       diesem Prozess zu bleiben? Kritik kommt ja nicht nur von
       Traditionalist:innen, sondern auch von Progressiven, die den
       Synodal:innen wiederum vorwerfen, den Bischöfen nur als reformatorisches
       Feigenblatt zu dienen.
       
       Klein gehört nicht nur einer geschlechtlichen und sexuellen Minderheit an,
       sondern als Kind des Erzgebirges auch der winzigen katholischen Diaspora in
       Sachsen. Zwölf Kilometer waren es damals zur Kirche, ein weiter Weg für
       Teenager. Der Pfarrer sperrte die Tür auf, gab ab und zu ein bisschen Geld,
       ließ das Grüppchen, zu dem Klein gehörte, ansonsten einfach machen. Es ging
       ums Zusammensein, Theologisches interessierte die Jugendlichen wenig. Dass
       Mara Klein sich als queer erkannte, auch nicht. „War kein Problem“, sagt
       Klein. Und die Familie? „Extrem tolerant.“ Das eigentliche Potenzial des
       Christentums, so erfährt es der junge Mensch damals, „besteht im
       Angenommensein“.
       
       Dann kommt das Studium, Englisch und katholische Theologie auf Lehramt. Wie
       in allen Berufen der katholischen „Verkündigung“ darf auch bei
       Religionsleher:innen der Ortsbischof mitreden. So sehen es die
       Staatskirchenverträge vor. Nicht nur inhaltliche Positionen, auch die
       persönliche Lebensführung spielte lange eine Rolle für die Erteilung der
       „Missio canonica“. Wenn jemand queer war oder geschieden, konnte die
       bischöfliche Beauftragung bis vor Kurzem verweigert oder wieder entzogen
       werden.
       
       Für Klein war das ein Grund, nicht in den Schuldienst zu gehen. Hier, an
       der Uni Münster, ist der Freiraum ein wenig größer. Doch auch bei
       Promotionen an den theologischen Fakultäten staatlicher Universitäten haben
       die Bischöfe ein Veto. Klein strebt aus diesem Grund den Doktor der
       Philosophie an, nicht den Doktor der Theologie: „Ich bin mir sicher, dass
       ich mit meinem Thema keine Zukunft in der akademischen Theologie habe.“
       
       „Prekäre Anerkennung: Das ‚dritte Geschlecht‘ in sozialethischer
       Perspektive“, so heißt Kleins Projekt. Solche Fragestellungen haben in der
       Vergangenheit manchen Forschenden die theologische Karriere gekostet. Klein
       überlegt, nach der Promotion in die Erwachsenbildung zu gehen.
       
       Seit dem 1. Januar gilt in den meisten katholischen Bistümern Deutschlands
       ein neues Arbeitsrecht. Aus manchen höchstpersönlichen Angelegenheiten
       ihrer Mitarbeitenden, etwa einer Geschlechtsangleichung oder einer zweiten
       Heirat, will sich ein Großteil der Bischöfe jetzt heraushalten. Es war ein
       ganz konkreter Erfolg des Synodalen Wegs, aber auch der [2][queeren
       Protestaktion Out in Church], an der sich Klein beteiligt hat.
       
       Doch Klein konstatiert nach drei Jahren Reformprozess auch: „Umfassende und
       ausreichende Reformen? Nein, da sind wir zum Teil gescheitert.“ Wenn Klein
       schweigt und nachdenkt, hört man im Hintergrund einen Vorschlaghammer
       wummern, von der Baustelle gegenüber. „Eine kleine Minderheit“, sagt Klein
       mit Blick auf antireformatorische Kräfte, „die keine Ahnung hat und sich
       nicht am Diskurs beteiligt, kann den Weg versperren. Das Problem ist
       Machtmissbrauch.“
       
       Zwei Drittel aller 69 deutschen Bischöfe mussten laut der Satzung des
       Synodalen Wegs den in den Arbeitsgruppen erstellten Beschlussvorlagen
       zustimmen. Die Mehrheit der 27 Diözesanbischöfe ist zurückhaltend, was
       dieses Machtmittel angeht. Es waren die konservativen unter ihren 42
       Helfern, die sogenannten Weihbischöfe, die mit der Sperrminorität die
       offizielle Anerkennung von queeren Lebensweisen seitens der katholischen
       Kirche verhinderten.
       
       Es war dieses Papier, das 2022 in Frankfurt spektakulär scheiterte, Mara
       Klein hatte daran mitgearbeitet, wie auch der Aachener Bischof Helmut
       Dieser. Nach der Abstimmung sagte der: „Ich weiß nicht, wie ich all den
       Enttäuschten noch gegenübertreten kann als Bischof. (…) Können wir so ins
       21. Jahrhundert mit einer säkularen, liberalen Gesellschaft gehen? Ich weiß
       nicht, wie ich so als Kirche über Sexualität reden kann.“
       
       Beim Synodalen Ausschuss am Wochenende sind die unberechenbaren
       Weihbischöfe nicht mehr dabei. Doch auch unter den 27 Diözesanbischöfen
       gibt es vier, die den Synodalen Prozess aufzuhalten versuchen. Neben dem
       berüchtigten Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki ist da Gregor Maria
       Hanke aus Eichstätt. Hanke ist dafür bekannt, dass er als Abt sein früheres
       Kloster zur vorbildlichen Öko-Abtei umgebaut hat. Der Dritte im Bunde ist
       Stephan Oster, Ex-Journalist mit Oxford-Abschluss. Und dann ist da noch
       Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg, der erst vor Kurzem für
       Schlagzeilen sorgte, als er auf einer Demo gegen Schwangerschaftsabbrüche
       neben Rechtsextremen fotografiert wurde. Voderholzer gilt als Rädelsführer
       der Traditionalisten.
       
       Hoch über dem Tal des Rheins und dem Städtchen Rüdesheim liegt die
       Benediktinerinnenabtei Sankt Hildegard. Eine wuchtige Burg aus dunklen
       Steinen, inmitten der südhessischen Weinberge. Die Trauben sind längst
       geerntet, es regnet. Im Tor steht Philippa Rath, 68 Jahre alt, Kopftuch,
       eisblaue Augen.
       
       ## Was nicht sein darf
       
       „Der Bischof von Regensburg saß mit mir in der Arbeitsgruppe zu Frauen“,
       erzählt Rath bei einem doppelten Espresso, tief in den Eingeweiden der
       riesigen Abtei. „Er hat beim Synodalen Weg immer gesagt, die Berufung sei
       zunächst eine subjektive Angelegenheit, die objektiv geprüft werden müsse.“
       Dem stimmt Rath zu, auch wer ins Kloster eintrete, werde von den anderen
       Schwestern eine Zeit lang geprüft. „Das Problem ist aber doch, dass die
       Kirche sich weigert, die Berufungen der Frauen, die Priesterinnen oder
       Diakoninnen werden möchten, überhaupt nur zu prüfen.“ Weil nicht sein kann,
       was nicht sein dürfe.
       
       „Ich bewundere Mara Klein“, sagt Philippa Rath. Sie selbst habe über den
       Synodalen Weg viel dazugelernt, sei der queeren Gemeinschaft gegenüber
       offen. Die Ordensfrau gendert beim Sprechen. Doch Rath hat als Synodalin
       einen eigenen Fokus. „Mehr als die Hälfte aller Katholiken sind Frauen, sie
       leisten die meiste Arbeit in der Kirche, haben aber kaum bis keinen Anteil
       an der Entscheidungsgewalt und der Verantwortung. Das ist der eigentliche
       Skandal.“ Philippa Rath sagt: „Ich wundere mich oft, wie viele Frauen noch
       dabei sind, trotz allem.“
       
       Schon 2020 hatte Philippa Rath bei der Eröffnung des Synodalen Weges im
       Frankfurter Dom gesagt: „Ich schäme mich zuweilen für meine Kirche.“ Seit
       1.500 Jahren würden Frauen in Ordensgemeinschaften ihre Leitungskompetenz
       beweisen, es sei Zeit, dies in der ganzen Kirche zu ermöglichen. Mit 36
       anderen Schwestern im Alter von 33 bis 94 lebt Rath hier in Sankt
       Hildegard. Lange war sie für die Finanzen zuständig, heute ist sie
       Webmasterin des Klosters.
       
       Die Benediktinerin spricht von zwei Berufungen. Der zum Ordensleben und
       einer späten Berufung zur Frauenrechtlerin. In den 80er Jahren besuchte
       Rath, die damals noch Mechthild genannt wurde, Frauenchiemsee, eines der
       ältesten Frauenklöster im deutschsprachigen Raum. Die junge Journalistin
       wollte lediglich eine Reportage schreiben, das Klosterleben fesselte sie
       dann mehr als gedacht. Hier am Rhein fand die gebürtige Düsseldorferin
       schließlich ihren Platz, ihre „stabilitas loci“, wie es die Benediktregel
       nennt.
       
       Zur Aktivistin wurde Rath durch Frauen, die für eine Auszeit nach Sankt
       Hildegard kommen. Oft würden diese Frauen im kirchlichen Dienst arbeiten
       und von der Zurückweisung berichten, die sie von Priestern erlebten, von
       der „Lebenswunde“, die der Ausschluss aus Führungsämtern bedeute. Ist auch
       Rath selbst eine verhinderte Priesterin? „Nein, für mich war das nie Thema,
       obwohl mein Patenonkel ein sehr überzeugender Priester war.“
       
       2019 gründete Philippa Rath das Catholic Womens Council mit, 2020 folgte
       sie dem Ruf der Deutschen Ordensobernkonferenz in den Synodalen Prozess.
       „Die Kirche bewegt sich für viele viel zu langsam, aber wir
       Benediktiner:innen haben als ältester Orden einen sehr langen Atem.“
       Wie zum Beweis deutet sie um sich, auf die jahrhundertealten Räume.
       
       Über das Rheintal senkt sich langsam Dunkelheit, Nebel steigt auf. In
       Rüdesheim stellen die Leute Kerzen in Kürbisse, die Stadt hat eine alte
       Villa zum Gruselhaus umdekoriert: Halloween überlagert auch hier das
       katholische Allerheiligenfest. Philippa Rath ist überzeugt, dass sie die
       Weihe von Frauen zu Priesterinnen und Diakoninnen noch erleben wird. Auch
       auf den Synodalen Ausschuss am Wochenende blickt sie zuversichtlich: „Das
       ZDK und die DBK haben sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und haben der
       Lobby, die das Ganze immer wieder desavouieren wollte, die Stirn geboten.“
       
       Dennoch hofft Rath, das auch Rudolf Voderholzer und die anderen
       traditionalistischen Bischöfe kommen. „Ich würde mir wünschen, dass wir im
       Gespräch bleiben, auch wenn ich inhaltlich ganz anderer Meinung bin.“ Mit
       dem Synodalen Rat gehe es jetzt auch darum, die Umsetzung der 14 bereits
       gefassten Reformbeschlüsse zu evaluieren: „Papier ist geduldig und darf
       nicht nur in den Schubladen liegen.“
       
       356 Seiten hat die sogenannte MHG-Studie, das Papier, mit dem der Synodale
       Prozess 2020 begann. Ab 2010 sorgte unter anderen der frühere
       Jesuitenschüler Matthias Katsch dafür, dass mehr und mehr [3][Fälle
       sexualisierter Gewalt im Raum der deutschen Kirche] ans Licht kamen. 2018
       lag mit der MHG-Studie, benannt nach den Universitäten in Mannheim,
       Heidelberg und Gießen, dann erstmals eine umfassende wissenschaftliche
       Untersuchung über das Ausmaß des Missbrauchs vor.
       
       Der Bericht legte nahe: Sexualisierte Gewalt wird vom exklusiven und
       hierarchischen System der Kirche begünstigt, von männerbündischen Macht-
       und Schweigekartellen. Die Oberhirten standen vor dem Scherbenhaufen ihres
       eigenen Handels und sahen sich genötigt, gemeinsam mit dem Zentralkomitee
       der deutschen Katholiken den Synodalen Weg einzuschlagen. Das Gebot der
       Stunde schien zu sein: mehr Demokratie wagen. Die Betroffenen
       sexualisierter Gewalt selbst aber blieben zunächst außen vor.
       
       Das dürfe, wenn es denn in Zukunft mit dem Synodalen Rat tatsächlich ein
       dauerhaftes Mitbestimmungsgremium geben sollte, nicht mehr passieren, sagt
       Johannes Norpoth. Er ist einer der prominentesten Vertreter der
       Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche. Norpoth sitzt auf unförmigen
       Möbeln in der Lobby eines Berliner Hotels, scherzt und lacht. Im
       Hintergrund klimpert die übliche Klaviermusik. Es amüsiert Norpoth, dass
       er, ein „tiefschwarzer“ CDU-Wähler, mit der linken taz spricht. Der
       57-Jährige mag es, dass ihn sein Ehrenamt im Betroffenenbeirat der
       Deutschen Bischofskonferenz „mit allen möglichen Leuten“ zusammenbringt.
       
       Auch mit Vertreter:innen der Bundespolitik. Eigentlich ist Norpoth in
       der Hauptstadt, um mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des
       sexuellen Kindesmissbrauchs zu sprechen. Vor einer Woche war er auf
       Einladung des katholischen Hilfswerks Missio in Rom, um sich am Rande der
       Weltsynode der Bischöfe mit Aktivist:innen aus aller Welt über
       Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt auszutauschen. Der
       Unternehmensberater schwärmt von Italien.
       
       Norpoth ist Lobbyist im Ehrenamt geworden, weil er als Kind Ungeheuerliches
       erlebte, wie er erzählt. Das Schreckliche sei dabei aber immer schon
       vermengt gewesen mit schönen Erfahrungen. Als „Hochphase der kirchlichen
       Jugendarbeit im Essener Norden“, erinnert Norpoth, ein studierter
       Soziologe, die 70er Jahre. Er beschreibt eine bis dahin kaum bekannte neue
       Form der Eigenverantwortung und Mitbestimmung. Ähnlich dem, was Mara Klein
       im Erzgebirge ebenfalls erlebt hat. Doch der damalige Kaplan in Norpoths
       Essener Heimatgemeinde soll sexualisierte Verbrechen begangen haben, das
       werfen ihm Norpoth und andere Schutzbefohlene vor.
       
       „Auch meine Liebe zu Italien und zu Rom stammt von ‚meinem‘ Täter“, sagt
       Norpoth heute im Rückblick. „Das muss ich akzeptieren. Im Gegenzug muss die
       Gesellschaft akzeptieren, dass diese Persönlichkeiten desaströse
       Charakterzüge hatten, die Menschen vernichtet und Seelen getötet haben.“
       
       Es hat lange gedauert, bis Johannes Norpoth „sprechfähig“ wurde, wie er
       sagt. Bis er „ent-emotionalisieren“ konnte, so nennt er es. 30 Jahre lang
       sei er vor dem Erlebten weggelaufen. Doch 2010, er hörte Berichte über
       Missbrauch in der Kirche, habe ihn die eigene Geschichte eingeholt. „Ich
       habe völlig dekompensiert. Und war nur noch sehr bedingt arbeitsfähig.“
       
       Norpoth gibt seinen Job beim katholischen Kolping-Verband Münster auf, geht
       in Therapie, setzt nach und nach seine Familie ins Bild. Auch seine Frau
       hat Norpoth im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit kennengelernt.
       
       ## Strafrechtlich sind die Taten verjährt
       
       Strafrechtlich sind die Taten, die Norpoth dem Kaplan vorwirft, verjährt.
       Norpoth will aber zumindest erreichen, dass der Mann kirchenrechtlich
       verurteilt wird. 2014 sagt Norpoth vor fünf Kirchenmännern aus, eine
       Zumutung. „Der damalige Offizial des Erzbistums Köln hat meinen Fall nach
       Rom gemeldet. Er urteilte, dass mein Fall nicht plausibel sei, weil ich so
       neutral über die Tat berichten konnte.“
       
       Haben sich diese Verfahren seitdem verbessert? „Ich glaube, dass es
       Offiziale gibt, die viel gelernt haben. Aber mindestens genauso viele, die
       nicht dazugelernt haben. Wir hören auch immer wieder, dass es Fälle gibt
       von retraumatisierenden Umgangsweisen“, weiß Norpoth.
       
       Zehn Jahre lang hält er sich von kirchlichen Ehrenämtern fern, er sagt, er
       habe „Luft“ gebraucht, um das wieder zu ertragen.“ Als die Deutsche
       Bischofskonferenz 2020 einen Betroffenenbeirat ausschreibt, bewirbt er
       sich. Doch warum, nach diesen Erfahrungen? „Eine gewisse Schizophrenie muss
       man mitbringen“, sagt Johannes Norpoth. Er sagt auch: „Dieser Laden
       reagiert nur auf Druck. Und der Druck kommt stärker an, wenn Sie drinnen
       sind.Ich fahre nicht zu einer Bischofskonferenz, um vor der Tür zu
       protestieren. Wenn ich fahre, will ich Teil der Beratungen sein.“
       
       Beim Synodalen Prozess hatten die Betroffenen zunächst nur einen Gaststatus
       mit Rederecht. „Aus Angst davor, dass die Delegierten die Schilderungen von
       Betroffenen hören müssen.“ Doch eine Gruppe von Synodal:innen wirkte
       darauf hin, dass sich das mittlerweile geändert hat.
       
       Gehen manche Diskussionen im Synodalen Prozess nicht weit weg vom
       ursprünglichen Ziel, Missbrauch zu verhindern?
       
       Nicht für Johannes Norpoth. Der Umgang mit Frauen und queeren Menschen, der
       Zölibat und die idealisierte Rolle des Priesters: „Das sind alles
       Bausteine, die sexualisierte Gewalt in der Kirche auch heute noch
       ermöglichen. Dadurch bekommen die Diskussionen heute noch mehr Relevanz,
       als sie schon in meiner Jugendzeit hatten.“
       
       Norpoths Eindruck von der Weltsynode in Rom ist, dass die Themen des
       Synodalen Prozesses weltweit drängen. „Das Verbot aus dem Vatikan wird
       bröckeln, wenn nicht sogar aufgehoben werden“, sagt Norpoth. Und die
       Verweigerer in Deutschland?
       
       „Das Bistum Regensburg ist, was Schnelligkeit und Fürsorge und Begleitung
       für die Opfer von Missbrauch angeht, vorbildlich“, sagt Norpoth. Das habe
       er Bischof Voderholzer auch schon einmal gesagt. Der Dissens bestehe darin,
       dass Voderholzer von Einzelfällen spreche und die systemischen Ursachen von
       sexualisierter Gewalt bestreite. „Das ist auch der Grund, warum er sich so
       gegen den Synodalen Prozess stellt.“
       
       Norpoth hofft dennoch, dass Voderholzer und auch die Bischöfe Oster, Hanke
       und Woelki nach Essen kommen werden. „Die sind genauso katholisch wie ich.“
       Der Betroffenenvertreter will eine „harte, faire und wertschätzende
       Auseinandersetzung“. Bischof Oster hat mittlerweile schon abgesagt, von den
       anderen dreien ist noch nichts bekannt.
       
       Johannes Norpoth, Philippa Rath, Mara Klein, sie alle werden nach Essen
       fahren. Damit die Diskriminierung aufhört. Damit der Missbrauch aufhört.
       Und doch, so der Eindruck, gibt es da noch etwas, das diese Menschen
       antreibt. Von „Gottesbegegnung“, spricht Mara Klein. „Berufung“ nennt es
       Philippa Rath. „Der liebe Gott hat mir meine Sprachfähigkeit
       wiedergegeben“, sagt Johannes Norpoth. Er sagt es nur halb im Scherz.
       
       10 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Reformbewegung-der-katholischen-Kirche/!5925804
   DIR [2] /Initiative-OutinChurch/!5924305
   DIR [3] /Missbrauchsgutachten-im-Bistum-Freiburg/!5928882
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Hunglinger
       
       ## TAGS
       
   DIR Katholische Kirche
   DIR Synodaler Weg
   DIR sexueller Missbrauch
   DIR GNS
   DIR Vatikan
   DIR Burschenschaft
   DIR Katholikentag
   DIR Evangelische Kirche
   DIR Kolumne Geraschel
   DIR Schwerpunkt Korruption
   DIR Evangelische Kirche
   DIR Missbrauch
   DIR sexueller Missbrauch
   DIR Vatikan
   DIR Katholische Kirche
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Frauen in der katholischen Kirche: Weltsynode bleibt vage in der Frauenfrage
       
       Vier Wochen saßen über 360 Bischöfe und andere Kirchenleute im Vatikan
       zusammen. Konkrete Beschlüsse gibt es nicht – auch nicht zum
       Frauendiakonat.
       
   DIR Internes Papier aus Studentenverbindung: Zu reaktionär für eine Verbindung
       
       Bei den katholischen Studentenverbindungen sorgt ein internes Papier für
       Streit. Es liegt der taz vor.
       
   DIR Katholikin Irme Stetter-Karp: Mit Mut zum Risiko
       
       Die Präsidentin des Zentralkomittees der Katholiken in Deutschland steht
       beim 103. Katholikentag im Fokus. Den Papst kritisiert sie hart.
       
   DIR Umgang der Kirche mit der freien Presse: Woelki will Wellen reiten
       
       Der berüchtigte Kölner Kardinal Woelki will mehr Einfluss auf das
       „Domradio“. Statt kritischen Inhalten könnte der Sender dann kirchlicher
       werden.
       
   DIR Botschaft vom Papst zum Weltfriedenstag: Armut? Corona? Isra..? Nein.
       
       Der Papst ist der Mann mit dem direkten Draht nach oben. Er warnt in diesem
       Jahr vor einer besonderen Gefahr – und das ist sehr lustig.
       
   DIR Vatikangericht verurteilt Kardinal: Kardinal, Korruption und Knast
       
       Erstmals wird ein Kardinal im Vatikanstaat zu einer Haftstrafe verurteilt.
       Ein krummer Immobiliendeal soll den Vatikan 140 Millionen gekostet haben.
       
   DIR Rücktritt der EKD-Chefin Kurschus: Erst die Kirche, zuletzt die Person
       
       Es gleicht einem Beben in der Evangelischen Kirche: Die Ratsvorsitzende
       Kurschus tritt zurück – um Glaubwürdigkeit für ihr Amt zu wahren.
       
   DIR Opfer von Gewalt im Kirchen-Internat: Zufrieden, trotz allem
       
       Heiner Windelband wurde im Internat Sankt Christophorus in Werne
       misshandelt und vergewaltigt. Er kämpft mit dem Trauma und um
       Entschädigung.
       
   DIR Vorwürfe gegen Franz Kardinal Hengsbach: Sie hatten ihm ein Denkmal gebaut
       
       Wieder kursiert beim Thema Missbrauch ein hochrangiger Name durch die
       katholische Kirche. Der Umgang mit den Vorwürfen wird von Katholiken
       kritisiert.
       
   DIR Rom gegen Lai*innenbeteiligung: Absage an Synodalen Weg
       
       Der Vatikan untersagt die Beteiligung von Lai*innen bei der Bischofswahl
       in Paderborn. Damit scheitert ein Reformvorhaben des Synodalen Wegs.
       
   DIR Reformbewegung der katholischen Kirche: Synodaler Ausschuss startet
       
       Im November soll es mit dem Reformprozess der katholischen Kirche
       weitergehen. Nicht alle deutschen Bischöfe wollen daran teilnehmen.