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       # taz.de -- Denkmalstreit in Jena: Vom Sockel stoßen
       
       > Was tun mit Philosoph und Judenfeind Jakob Friedrich Fries? Jena, eine
       > Stadt mit vielen Denkmälern, ringt um den Umgang mit problematischen
       > Geehrten.
       
   IMG Bild: Wäre er wenigstens berühmt: das Jakob-Friedrich-Fries-Denkmal im Jenaer Fürstengraben (hier gekippt)
       
       Jena taz | Steinerne Männerköpfe schauen auf vorbeifahrende Autos und in
       den gegenüberliegenden Botanischen Garten. Hier in Jena nennt man die in
       der Straße Fürstengraben aufgereihten Denkmäler [1][„via triumphalis“].
       
       Über der Thüringer Universitätsstadt hängt Nebel, im Herbstlaub vor einer
       der Büsten steht der [2][Stadthistoriker Rüdiger Stutz]. Er kennt die
       Jenaer Denkmallandschaft so gut wie die Winkel seiner braunen Ledertasche,
       die er auf einer Bank abstellt. Den rauschenden Straßenverkehr hinter sich,
       spricht der Stadthistoriker über den toten Mann, dessen steinernes
       Konterfei vor ihm auf dem Sockel steht: Jakob Friedrich Fries.
       
       Der 1773 geborene Denker ist umstritten: Fries war nicht nur Philosoph,
       sondern publizierte 1816 auch die Schrift [3][„Über die Gefährdung des
       Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“]: eine
       „Recension“ des Texts „Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche
       Bürgerrecht“. Deren Verfasser, der Berliner Völkerkundler Friedrich Rühs,
       hatte geschrieben, wenn sich jüdische Menschen nicht zur Taufe bewegen
       ließen, bleibe nur ihre Ausrottung – und Fries sah es genauso. Deshalb wird
       heute der Ruf laut, seine Büste müsse vom Fürstengraben verschwinden.
       
       In der Stadt fallen neben steinernen Denkmälern auch zahlreiche Tafeln auf,
       die an Hauswänden zumeist an lange verblichene Denker erinnern. An manchen
       Häusern hängen mehrere solcher Tafeln. Im Fürstengraben zählen unter
       anderem Hegel, Schiller und ein Burschenschaftsdenkmal zu Fries’ steinernen
       Nachbarn. Jena ist erkennbar eine Universitätsstadt – und sichtlich stolz
       auf ihre Tradition.
       
       ## Taufe oder Tod
       
       Stadthistoriker Stutz sagt, engagiert gestikulierend, dass die „via
       triumphales“ zur „Selbstidentifizierung“ des Bildungsbürgertums der Stadt
       gehöre. Und nähme man die Fries-Büste vom Sockel, könne man gleich
       weitermachen mit anderen problematischen Porträtierten. Man brauche
       „nachvollziehbare Gründe“, warum es ausgerechnet Fries treffen soll.
       Bekannt ist der etwa auch als Ideengeber der sogenannten Urburschenschaft,
       1815 in Jena gegründet zur Vereinigung deutscher Burschenschaften und zur
       Disziplinierung von Studenten.
       
       Immer wieder gibt es in Jena Streit ums Erinnern. Von „Diskussionen, die
       immer mal wieder entfachen“, spricht Historiker Stutz. Das
       Burschenschaftsdenkmal vor dem Hauptuniversitätsgebäude ist verhüllt,
       dauerhaft – nachdem es 2010 mit Farbe beschmiert worden war und aufwändig
       gereinigt wurde. Auch eine Büste von Karl Marx wurde bereits abgebaut: Nach
       einer langen Diskussion hat man sie 1992 ins Magazin gestellt. Und derzeit
       wird also diskutiert, was mit Fries passieren soll.
       
       Der Philosoph wird in Jena gleich in unterschiedlicher Form geehrt. Es gibt
       eine nach ihm benannte Straße und eine zweite Fries-Büste, die erst im Jahr
       2000 im Hörsaal des Philosophischen Instituts enthüllt worden ist. 20 Jahre
       später dann wurde sie aufgrund der antisemitischen Äußerungen Fries’ Thema
       im Jenaer Stadtrat, das Philosophische Institut veranstaltete zwei Seminare
       zur kritischen Auseinandersetzung mit Fries und seinen problematischen
       Ansichten. Auch die Büste im Hörsaal wurde zwischenzeitlich verhängt.
       
       „Das ist das einfachste Mittel, um die Diskussion wieder aufzugreifen“,
       sagt Stutz. Er schlägt auch für die Büste im Fürstengraben „Formen der
       Verfremdung“ vor. Denn durch das vollständige Abräumen, findet er, „wird
       eine Diskussion abgeschnitten“. Seit 2008 ist der 66-jährige
       Stadthistoriker in Jena. Er wisse mittlerweile, dass es in
       „erinnerungskulturellen Kontroversen keinen Anfang und kein Ende“ gibt.
       „Die unterschiedlichen Parteien in der Diskussion um die Fries-Büste haben
       sich noch gar nicht richtig konstituiert“, so Stutz. Universität und Stadt
       müssten miteinander reden. „Ich würde mir wünschen, dass die Diskussion um
       das Fries-Denkmal stärker in die gesamte Denkmallandschaft Jenas
       eingebunden wird.“
       
       Der Stadthistoriker ist geschäftig. Nach dem Gespräch vor der Büste
       verabschiedet er sich, um zu einer Stolpersteinverlegung zu eilen: An der
       ehemaligen Kinderklinik soll künftig an die Opfer der
       nationalsozialistischen „Kindereuthanasie“ erinnert werden.
       
       Am Abend kommt Stutz wieder in den Fürstengraben, um sich in der Thüringer
       Landesbibliothek bei einer Diskussionsrunde zum Umgang mit der Fries-Büste
       und anderen Denkmälern ins Publikum zu setzen. Er selbst war auch als
       Redner eingeladen worden, gibt aber offen zu, dass er „gekniffen“ hat: Er
       habe sich der philosophischen Auseinandersetzung mit Fries und dessen
       Schriften nicht gewachsen gefühlt. Organisiert wurde die Veranstaltung vom
       [4][Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft] und dem Projekt
       „Rassismus, Sexismus, Antisemitismus in Werken der klassischen Deutschen
       Philosophie?“ des Philosophischen Instituts.
       
       Dass es in der Philosophie neben Fries noch weitere antisemitische und
       rassistische Köpfe gibt, ist Philosoph:innen in der Stadt bewusst. Seit
       dem vergangenen Jahr setzt sich [5][ein Team um Professorin Andrea Esser]
       auseinander mit problematischen Denkmustern bei Kant, Hegel und anderen
       Philosophen-Kollegen. Es brauche „Druck von außen“, damit sich das Fach mit
       Rassismus, Antisemitismus und Sexismus befasst, erklärt [6][Joël
       Ben-Yehoshua], der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei dem Projekt
       arbeitet und auf dem Podium sitzt. Auf der Website
       www.erinnerngestalten.uni-jena.de hat das Institut für Philosophie bereits
       Vorschläge gesammelt für einen Umgang mit Fries.
       
       ## Kritik am „Personenkult“
       
       Für die einen ist der 1843 verstorbene Fries ein einflussreicher Vertreter
       des deutschen Kantianismus beziehungsweise Nachkantianismus, für andere
       ein eher unbekannter Philosoph. Ben-Yehoshua sagt, Fichte, Hegel und
       Schelling – auch ihre Büsten stehen in Jena im Hörsaal – gehörten dagegen
       wenigstens „zu den einflussreichsten Philosophen der Welt“. Aber Fries?
       Insgesamt sieht der Doktorand den „Personenkult“ kritisch. Naserümpfend
       sagt er später, eigentlich könnten ruhig alle Büsten raus aus dem Hörsaal.
       „Mit Ausnahmen“, so Ben-Yehoshua, haben die sich alle zu verschiedenem Grad
       judenfeindlich geäußert.“
       
       Für [7][den Theologen Martin Leiner] hat Fries nicht einfach den
       „Antijudaismus seiner Zeit zum Vorschein gebracht“. Er sieht ihn gar als
       den ersten Autor, der „die physikalische Vernichtung der Juden“ überhaupt
       „ins Gespräch gebracht“ habe. Zusammen mit anderen Professor:innen hat
       Leiner im vergangenen Jahr einen offenen Brief an den Stadtrat formuliert.
       Die Absender:innen fordern, „nun endlich“ etwas zu unternehmen in Bezug
       auf die Fries-Statue „in der Ehrengalerie ‚via triumphalis‘“. Als
       Professor:innen der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität sei es ihnen
       wichtig, „in einem Umfeld zu arbeiten“, in dem „Antisemitismus, Bestreitung
       des Lebensrechts von Behinderten und psychisch Kranken“ sowie „Rassismus“
       ausdrücklich abgelehnt würden, heißt es darin weiter.
       
       [8][Die Jenaer Partei „Die Guten“] hatte zusammen mit dem Antrag auf
       Umbenennung des Friesweges auch jene Umbenennung der Hans-Berger-Straße
       gefordert; dort ist inzwischen eine Plakette angebracht, die darauf
       hinweist, dass Berger nicht nur Erfinder der Elektroenzephalografie (EGG)
       „zur Messung von Hirnströmen bei Menschen“ war, sondern auch Beisitzer am
       Erbgesundheitsobergericht Jena – und somit „für zahlreiche
       Zwangssterilisationen mitverantwortlich“. Der [9][Arbeitskreis „Sprechende
       Vergangenheit“] kämpft dafür, dass auch an Bergers Büste, die vor der
       Jenaer Psychiatrie steht, über seine Taten während der NS-Zeit informiert
       wird.
       
       ## Wer ist angesprochen?
       
       Bei der Diskussion in der Thüringer Landesbibliothek wird deutlich, dass es
       verschiedene Formen gibt, mit den Denkmälern in der Stadt umzugehen. Neben
       einer Kontextualisierung, sagt Historikerin Stefanie Middendorf, gebe es
       etwa die Möglichkeit, einen „leeren Sockel“ danebenzustellen. Sie fragt
       auch: „Für wen werden solche Aktionen, wird ein Transfer von Gedenken
       eigentlich gemacht?“ Die jüdische Aktivistin und Kulturhistorikerin Maya
       Roisman kritisiert, dass „eine Dominanzgesellschaft“ über Fragen des
       Erinnerns entscheide, aber nicht diejenigen, die von Diskriminierung
       betroffen seien.
       
       Der Philosoph Joël Ben-Yehoshua wird sich am nächsten Tag wieder an seine
       Dissertation setzen und sich statt dem „Personenkult“ lieber wieder den
       philosophischen Texten zuwenden. Er wird sich mit dem Antisemitismus in den
       Werken von Johann Gottlieb Fichte befassen, vorher scherzhaft der
       Schiller-Büste im Eingangsbereich des Philosophie-Instituts seine Kappe
       überziehen. Auch für ihn gibt es noch viel zu tun. Und der Weg ist dabei
       schon ein kleines Ziel.
       
       31 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.entdecke-jena.de/jena/jena-denkmaeler.htm
   DIR [2] /Fragwuerdige-Ehrung-in-Jena/!5149648
   DIR [3] https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/urn/urn:nbn:de:hebis:30-180011534005
   DIR [4] https://www.idz-jena.de/
   DIR [5] https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/497527124?context=projekt&task=showDetail&id=497527124&
   DIR [6] https://www.philosophie.uni-jena.de/forschung/projekte/wie-umgehen-mit-rsa/team-kontakt/joel-ben-yehoshua
   DIR [7] https://www.theologie.uni-jena.de/martin-leiner
   DIR [8] https://www.jenableibt.de/
   DIR [9] https://www.aktionsnetzwerk.de/index.php/netzwerk/sprechende-vergangenheit
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea De Gregorio
       
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