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       # taz.de -- Krieg im Nahen Osten: Logik der Solidarität
       
       > Besonders in Zeiten des Krieges gilt es, der Polarisierung
       > entgegenzuwirken. Jüdische und palästinensische Aktivist:innen in
       > Israel sind mutig.
       
   IMG Bild: Der „schwarze Schabbat“ ist für jüdischisraelische Linksliberale eine Zäsur von unabsehbarem Ausmaß
       
       Seit Anfang des Jahres gingen in Israel jeden Samstagabend Hunderttausende
       meist linksliberale, überwiegend jüdische Israelis auf die Straße, um gegen
       die antidemokratischen, autoritären Pläne der rechtsreligiösen, teils
       rechtsradikalen Regierung zu protestieren, die die unabhängige
       Gerichtsbarkeit im Staat schwächt. Die jüdischisraelische Gesellschaft
       schien gespalten wie noch nie. Hier die Befürworter:innen, dort die
       Gegner:innen von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
       
       Im Zuge der politisch turbulenten Wochen des vergangenen Sommers
       einschließlich der Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel in
       einer historischen Knessetsitzung wurde dann zudem Kritik an der
       Radikalisierung des Siedlungsbaus sowie der [1][Siedlergewalt im besetzten
       Westjordanland] laut.
       
       Viele Demonstrierende, darunter nicht nur die kleine Gruppe der
       Antibesatzungsaktivist:innen, schienen zunehmend zu erkennen, dass ein
       kausaler Zusammenhang zwischen den autoritären Plänen der Regierung sowie
       der Eskalation der Besatzungs- und [2][Annexionspolitik] besteht und dass
       diese Politik auch die Sicherheit der Bevölkerung innerhalb Israels in
       seinen anerkannten Grenzen von 1948 gefährden könnte.
       
       Mit dem 7. Oktober 2023 kam die Protestbewegung schlagartig zum Erliegen.
       Seit gut einem Monat befindet sich das Land infolge des [3][brutalen
       Terrorangriffs der Hamas] im Schock- und Kriegszustand. Die
       jüdischisraelische Bevölkerung schwankt, auch medial, zwischen Trauer,
       Racheforderungen und endloser Kriegsberichterstattung. Eine überwältigende
       Mehrheit – auch unter denen, die ein Dreivierteljahr lang [4][gegen die
       Regierung auf die Straße gingen und für Demokratie] kämpften – steht hinter
       der militärischen Reaktion Israels.
       
       ## Viele Linksliberale unter den Opfern
       
       Auch um den Preis der hohen zivilen Opferzahlen im Gazastreifen. Sogar ein
       [5][Kriegskabinett unter Beteiligung von Oppositionspolitikern] wurde
       ins Leben gerufen, um der verunsicherten Bevölkerung Einheit zu
       demonstrieren. Diese Maßnahmen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen,
       dass sich die Gräben, die sich in den vergangenen Monaten auftaten, nicht
       durch die vorgebliche Einigkeit in Kriegszeiten zuschütten lassen.
       
       Dafür sind sie zu tief und das Misstrauen gegenüber Ministerpräsident
       Netanjahu und seiner Regierung zu groß. Dies lässt sich vor allem an zwei
       Themen festmachen: an der Suche nach den Ursachen für das kolossale
       Versagen der israelischen Sicherheitsorgane am 7. Oktober sowie am Umgang
       mit den rund 240 [6][Geiseln in den Händen der Hamas], darunter auch
       palästinensische Staatsbürger:innen Israels und Arbeitskräfte aus
       Thailand.
       
       Das Massaker traf vor allem israelische Zivilist:innen, darunter sehr
       viele Bewohner:innen der Kibbuzim in Grenznähe zum Gazastreifen.
       Zweifellos waren unter den Opfern und sind unter den Entführten zahlreiche
       Unterstützer:innen der Protestbewegung. Auch zahlreiche israelische
       Menschenrechts- und Antibesatzungsorganisationen haben am 7. Oktober 2023
       Mitglieder und Aktivist:innen verloren.
       
       Daher war dieser „schwarze Schabbat“, wie der Tag in Israel genannt wird,
       auch für jüdischisraelische Linksliberale eine Zäsur von noch unabsehbarem
       Ausmaß. Auch die Reaktionen auf die Attacke sowie den immer brutaler
       werdenden Krieg im Gazastreifen machen die Unterschiede zwischen dem
       linksliberalen Anti-Netanjahu-Lager und dem radikaleren
       Antibesatzungsblock, die sich bereits im Zuge der Protestbewegung zeigten,
       noch deutlicher.
       
       ## Wider die Gewalt und Feindschaft
       
       Akteur:innen des jüdischisraelischen Mitte-links Lagers, etwa von der
       Arbeiterpartei Awoda oder der linkszionistischen Partei Meretz, versuchen
       sich in einem Spagat zwischen der Betonung der nationalen Einheit in Zeiten
       des Krieges gegen die Hamas im Gazastreifen (und zunehmend die Hisbollah im
       Libanon) und gleichzeitiger Kritik am Vorgehen der Einheitsregierung. Dabei
       geht es auch um die mangelhafte staatliche Unterstützung für rund eine
       Viertelmillion Binnengeflüchtete.
       
       Die Kritik richtet sich gleichzeitig gegen die zu zaghaften Bemühungen der
       Regierung für eine Freilassung der über 240 [7][im Gazastreifen
       festgehaltenen Entführten]. Das Mitte-links-Lager verharrt damit jedoch in
       der militaristischen Logik von Gewalt und Gegengewalt und findet keine
       Antwort auf die immer lauter werdenden Proteste von Angehörigen der
       Entführten, die die Unvereinbarkeit zwischen dem Vorrücken der Bodentruppen
       und der Befreiung möglichst aller noch verbliebenen Geiseln betonen.
       
       Im Gegensatz dazu formieren sich auch in diesen bitteren Wochen zahlreiche
       Initiativen, die sich gegen die der Region scheinbar inhärenten Logik der
       Gewalt und der Feindschaft zwischen Juden:Jüdinnen und
       Palästinenser:innen stemmen.
       
       So machen etwa die Knessetabgeordneten Ayman Odeh und Aida Touma-Sliman von
       der sozialistischen Hadash-Partei oder auch Aktivist:innen wie Alon-Lee
       Green oder Sally Abed von der jüdisch-arabischen Graswurzelorganisation
       Standing Together (Omdim Beyachad) eindrucksvoll vor, wie das Entsetzen
       und die Trauer angesichts der Kriegsverbrechen der Hamas in eine
       universalistische Botschaft der Solidarität mit allen Opfern dieses
       neuerlichen Blutvergießens in Israel und Palästina eingebettet werden kann.
       
       Sie schaffen damit einen Gegenentwurf zu den in Israel dominanten
       Racheforderungen, die sich im öffentlichen Diskurs mehr und mehr
       breitmachen, sei es durch die Missachtung der zivilen Opfer in Gaza oder
       durch erschreckende Repression gegen palästinensische
       Staatsbürger:innen Israels. Erst diese Woche kam es zur [8][Verhaftung
       führender palästinensischer Politiker*innen in Israel], weil sie eine
       stille Mahnwache in Nazareth gegen den Krieg organisiert hatten.
       
       ## Repression gegen palästinensische Israelis
       
       Diese Akteur:innen aus dem sogenannten Friedenslager artikulieren sowohl
       als jüdischisraelische Linke als auch als palästinensische linke Stimmen in
       diesen Wochen eine Haltung, die in Zeiten des Krieges und der Polarisierung
       selten geworden ist: eine uneingeschränkte Humanität und gegenseitige
       Solidarität.
       
       Dazu gehört es einerseits, dem Leid der jüdischisraelischen Bevölkerung
       infolge des Hamas-Massakers Raum zu geben und praktische Solidarität mit
       den Betroffenen auszuüben (inklusive der unmissverständlichen Forderung
       nach Gefangenenaustausch), und andererseits, unentwegt die unerträglichen
       Folgen der israelischen Militärangriffe auf den Gazastreifen, die
       Eskalation der Gewalt der Siedler:innen im Westjordanland sowie die immer
       stärker werdende Repression gegen palästinensische Staatsbürger:innen
       Israels zu verurteilen.
       
       Das erfordert in einem Klima, das infolge der Attacken noch intoleranter
       gegenüber allem Zweideutigen, Ambivalenten, nicht sofort dem
       Freund-Feind-Schema Zuzuordnenden geworden ist, großen Mut und
       Entschlossenheit. Erst vor wenigen Tagen entschied das Oberste Gericht –
       bekanntlich der größte Gegner der Netanjahu-Regierung –, einen Eilantrag
       palästinensischer zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in Israel gegen
       ein umfassendes Verbot von Antikriegsdemonstrationen abzulehnen.
       
       Die jüdisch-palästinensische Solidarität ist auch deshalb bemerkenswert,
       weil sie im Unterschied zu den derzeit dominanten politischen und
       militärischen Stimmen in Israel auf den Moment nach dem Krieg blickt. Die
       Aktivist:innen stellen die Fragen, mit denen sich die meisten
       Politiker:innen und Analyst:innen in den Wochen seit dem 7. Oktober
       zu selten beschäftigen: [9][Was soll passieren, nachdem dieser Krieg
       endet]?
       
       ## Zusammenleben auf Augenhöhe
       
       Was könnten Auswege sein aus dem Kreislauf der Gewalt, Gegengewalt und des
       endlosen Blutvergießens? Ist wirklich mehr Militarismus, mehr Bewaffnung
       und mehr Zerstörung der Weg, um einen weiteren Angriff der Hamas zu
       unterbinden? Oder ist nicht doch eine Perspektive für palästinensische und
       jüdische Selbstbestimmung in Form eines palästinensischen Staates an der
       Seite Israels sowie die Stärkung des Verhältnisses zwischen jüdischen
       Israelis und palästinensischen Staatsbürger:innen innerhalb Israels die
       Grundlage für ein würdevolles Leben für alle zwischen Mittelmeer und
       Jordan?
       
       Eine kürzlich veröffentlichte Erklärung von jüdischen und palästinensischen
       progressiven Initiativen innerhalb Israels brachte die Notwendigkeit der
       Stunde auf den Punkt: „Die Besatzung, die Belagerung, die Kriege, der
       Terrorismus, die Unterdrückung, der Rassismus und die Gewalt, die
       Verletzung der Demokratie und der Menschenrechte – all dies hat die beiden
       Völker, die zwischen dem Meer und dem Jordan leben, in eine unvorstellbare
       Katastrophe geführt, die kein Maß kennt. Gerade in diesen schrecklichen
       Tagen wird die einfache Wahrheit deutlicher denn je: Freiheit, Sicherheit
       und Leben aller Menschen in diesem Land hängen voneinander ab.
       
       Im Gedenken an die Ermordeten und um der Lebenden willen müssen wir
       gemeinsam handeln – Juden und Araber – für die Freilassung der Entführten
       und Gefangenen, für das Ende des Kriegs, für das Ende der Besatzung und des
       Konflikts, für den Frieden.“
       
       Für alle, die angesichts der mitunter schwer auszuhaltenden Polarisierung
       der deutschsprachigen, aber auch der internationalen linken Debatten zur
       aktuellen Situation in Israel und Palästina verzweifeln, sind solche
       Positionierungen jüdischer und palästinensischer Akteur:innen Israels,
       die die Alternativlosigkeit des Zusammenlebens auf Augenhöhe und mit
       gleichen Rechten erkennen und sich damit der ewigen Logik des Militarismus
       und Nihilismus widersetzen, vielleicht der einzige Hoffnungsschimmer dieser
       Zeit.
       
       Mögen diese Positionen bei all jenen auf offene Ohren stoßen, die bis vor
       einem Monat dachten, dass sie für den Protest gegen die autoritäre Agenda
       der Regierung nicht relevant seien.
       
       13 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gewalt-in-Nahost/!5931085
   DIR [2] /Israels-Annexionsplaene/!5693323
   DIR [3] /Nach-dem-Massaker-im-Kibbuz-Kfar-Aza/!5968099
   DIR [4] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-11-09/ty-article/.premium/under-the-fog-of-war-israeli-law-enforcement-make-judicial-coup-a-reality/0000018b-b5a2-df42-a78f-bde32f610000
   DIR [5] /Gantz-und-Netanjahu-bilden-Regierung/!5680162
   DIR [6] /Angriff-auf-Israel/!5962688
   DIR [7] /Entfuehrte-Israelis-in-Gaza/!5966308
   DIR [8] https://twitter.com/gil_shohat/status/1722559194035859529?s=20
   DIR [9] /Krieg-im-Nahen-Osten/!5967970
       
       ## AUTOREN
       
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