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       # taz.de -- Musikerin Mary Ocher im Gespräch: „Lasst uns zusammenbleiben“
       
       > Mary Ocher ist russischstämmige Israelin und lebt in Berlin. Ein Gespräch
       > über ihr neues Album und wie sie die aktuellen Kriege musikalisch
       > verarbeitet.
       
   IMG Bild: „Ich habe den Nahen Osten verlassen, weil dort kein Platz für Leute wie mich war“: Mary Ocher
       
       wochentaz: Mary Ocher, Ihr neues Album trägt den Titel „Approaching
       Singularity: Music for the End of Time“. Können Sie das Kernthema der Musik
       skizzieren? 
       
       Mary Ocher: Wenn ich versuche, es zusammenzufassen, scheine ich dem Thema
       nicht ganz gerecht zu werden. Es geht um technologische Expansion jenseits
       des Vorhersehbaren, um Überwachung, totalitäre Regime, Paranoia und
       Science-Fiction. Es geht um Politik, aber die Songs handeln auch von den
       Verbindungen zwischen all dem oben Genannten sowie von vielen anderen
       Dingen.
       
       Was gefällt Ihnen an Science-Fiction? 
       
       Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass es eigentlich
       gar nicht um Science-Fiction als solche geht, sondern dass ich sie nur als
       Allegorie benutze: Angst vor dem Aussterben, Gier und eine Menge anderer
       lustiger Dinge.
       
       Und die Musik, wie beschreiben Sie sie für Außenstehende? 
       
       Es kommt darauf an, mit wem ich spreche. Ist es jemand, der sich mit
       Underground-Musik auskennt oder zumindest an Kunst und Kultur interessiert
       ist? Oder ist es jemand mit großer Distanz sowohl zu Musik als auch zu
       Kunst? Ersterer Person könnte ich einige Einflüsse nennen, sagen, dass
       meine Musik minimalistisch und trotzdem vielfältig klingt und Genres wie
       Folk, Ambient, Psych-Pop, Krautrock zitiert. Zur zweiten Person würde ich
       sagen: Meine Musik ist politisch und schwer zu kategorisieren.
       
       In Ihrer neuen Single „Zone“ mit Barry Burns [1][von der Band Mogwai]
       möchte sich ein „Kind an die Schrecken erinnern, die es in einem
       Kriegsgebiet erlebt hat“. Sie selbst haben als Kind den Golfkrieg in Israel
       erlebt. Sie schreiben in einem Statement, „Zone“ fällt „tragischerweise mit
       dem aktuellen Kriegszustand in meiner zweiten Heimat zusammen“. Zuvor hat
       Ihr Geburtsland Russland einen schrecklichen Krieg gegen die Ukraine
       begonnen, den Sie offen verurteilt haben. Was kann Musik in einer Welt
       ausrichten, die eine Kriegszone ist? Kann sie mehr Empathie schaffen?
       
       Wenn überhaupt, dann werden Menschen, die bereits einfühlsam sind, von
       Musik angezogen, die introspektiv ist und eine gewisse Ruhe ausstrahlt.
       Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass meine Musik irgendjemandem
       etwas Neues beibringen wird. Aber ich gehe davon aus, dass meine
       Zuhörer*innen mehr oder weniger ähnlich denken wie ich – obwohl gerade
       so viel Nationalismus in der Luft liegt. Ich laufe vor Nationalismus weg
       wie vor Feuer. Ich kann die Aufrufe zur Gewalt – von allen Seiten – oder
       religiöse Bekenntnisse – von allen Seiten – absolut nicht ausstehen. Für
       mich ist das sinnlos, ich habe den Nahen Osten verlassen, weil dort kein
       Platz für Leute wie mich war.
       
       Sie sind 2007 nach Berlin gekommen. Wie hat die Stadt Ihre Musik und Ihren
       persönlichen Werdegang beeinflusst und was hat sich über die Jahre
       verändert? 
       
       Wir Außenseiter fanden hier alle ein Zuhause, die Stadt hatte ein langsames
       Tempo, das Experimente zuließ. Es gab reichlich Platz und andere Freaks,
       die hierher kamen und einen Ort suchten, der sie akzeptierte, anstatt sie
       zu verurteilen. Es ist aber mittlerweile keine Stadt mehr, in der junge
       Underground-Kultur gedeihen kann. Vielmehr ist Berlin inzwischen [2][ein
       kommerzielles Zentrum.] Nur diejenigen von uns, die sich etabliert haben,
       konnten bleiben, die anderen mussten weiterziehen, irgendwo anders hin.
       Berlin ist kein Ort mehr, an den man zieht, wenn man eine junge,
       aufstrebende Avantgarde-Kunstschaffende ist: Es wäre zu entmutigend, um
       sich finanziell über Wasser halten zu können und Vollzeit in einem Bürojob
       zu arbeiten, der nicht das ist, wofür man hergekommen ist. Ich habe mich
       damit abgefunden. Eine Stadt ist etwas Lebendiges, sie verändert sich, und
       wir uns auch.
       
       Ihre Alben greifen konzeptionelle und zum Nachdenken anregende Themen auf.
       Sie befassen sich immer mit politischen und philosophischen Fragen. Sie
       fügen Ihrer Musik stets Essays hinzu. Könnten Sie mehr zu Ihrem
       Schaffensprozess sagen? Beginnen Sie mit einer vorgefassten Idee, oder
       entwickelt sich das Konzept nach und nach? 
       
       Ich höre mir zunächst die aufgenommenen Stücke an und setze sie so
       zusammen, dass sich ein roter Faden ergibt. Wenn es Themen gibt, die in den
       Liedern nicht ausführlich genug behandelt werden können, füge ich mehr Text
       hinzu. Der Essay zum aktuellen Album ist eine Textsammlung über einen
       längeren Zeitraum – ich habe ihn immer wieder überarbeitet. Ich bin
       Schulabbrecherin, aber ich lese sehr viel. Es macht mir wirklich großen
       Spaß, mich mit Dingen zu befassen, für die ich eigentlich keine Erlaubnis
       habe.
       
       Wie ist das Verhältnis zwischen Form und Inhalt in Ihrer Musik? 
       
       Schwierige Frage, denn manchmal liegt die Beschränkung in der
       Instrumentierung (Form) und manchmal im Text (Inhalt). Ich versuche, nicht
       immer auf die gleiche Weise zu beginnen oder die gleiche Methode zu
       verwenden, um vielfältigere Ergebnisse zu erzielen. Die Songs meines neuen
       Albums drehen sich um die düstere Zukunft. Ich versuche zu analysieren,
       wohin sich die Dinge entwickeln könnten, aber gleichzeitig ist die Musik
       sehr altmodisch, sie ist nicht KI-generiert. Sie ist zwar elektronisch,
       aber ich verwende nicht die neueste Technologie. Manche sind regelrecht
       besessen von ständigen Updates, den neuesten Instrumenten, der neuesten
       Software. Ich finde das zwar interessant, weiß aber, dass ich nie zu diesen
       Leuten gehören werde.
       
       Sie haben Ihr eigenes Label gegründet, das zugleich eine Kunstplattform
       ist: Underground Institute. Worum geht es da? 
       
       Underground Institute begann als Booking-Agentur, aber kurz nach Gründung
       fing die Pandemie an. Stattdessen kuratierte das UI dann Radiosendungen.
       2022 waren Konzerte wieder möglich, und wir veranstalteten letzten Dezember
       sogar ein dreitägiges Festival. Wir haben jetzt einen internationalen
       Vertrieb, der es uns ermöglicht, Musik zu veröffentlichen. Es ist einfach
       unglaublich, alle künstlerischen Freiheiten zu haben, kreative
       Entscheidungen zu treffen und alle, die man mag, mit ins Boot holen zu
       können.
       
       Nennen Sie ein Beispiel. 
       
       Im April haben wir [3][eine Charity-Compilation veröffentlicht,] die Erlöse
       gingen ein Bildungsprojekt für Mädchen in Afghanistan. Gemeinsam mit Gudrun
       Gut, Xiu Xiu, Felix Kubin und vielen anderen konnten wir eine hohe Summe an
       die Afghan Women's Association spenden.
       
       Was ist der Fokus allgemein? 
       
       Underground Institute ermöglicht uns, verschiedene Projekte ins Leben zu
       rufen, mit anderen zusammenzuarbeiten und neu entdeckte Künstler*innen, die
       uns gefallen, zu unterstützen. Es ist alles, was wir sein wollen, eben
       nicht nur ein Label oder eine Bookingagentur. Der Fokus liegt dabei auf
       Künstler*innen, die schwer zu kategorisieren sind, zumeist Frauen in
       verschiedenen Bereichen der experimentellen Musik.
       
       Wie können wir, abgesehen vom Hören Ihrer Musik, mit dem Alltag in
       apokalyptischen Zeiten fertig werden? 
       
       Indem wir zusammenbleiben, zu unseren Gemeinschaften stehen und uns
       gegenseitig unterstützen. Alles, was das Gegenteil davon ist, allein zu
       sein oder sich gegen Gleichgesinnte zu wenden.
       
       13 Nov 2023
       
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   DIR Yelizaveta Landenberger
       
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