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       # taz.de -- Die Kunst der Woche: Buchstabe für Buchstabe
       
       > Nicholas Warburg gibt mit seinen Titelbildern Lesestoff. Franco
       > Mazzucchelli lädt die Leute mit Luft und ganz viel PVC zum Mitmachen ein.
       
   IMG Bild: Blick in Mazzucchellis Ausstellung „A. on A.“ bei ChertLüdde
       
       Die Begrüßung fällt nicht gerade herzlich aus. „Wenn Nietzsche einem
       klapprigen Droschkengaul um den Hals gefallen ist kannst du mir doch
       wenigstens Hallo sagen“. So steht es geschrieben, in weißen Großbuchstaben
       auf schwarzem Grund. Direkt neben der Eingangstür zur Charlottenburger
       [1][Galerie Anton Janizewski] hängt das Bild in der Einzelausstellung von
       Nicholas Warburg. Es ist das erste seiner „Titelbilder“ – so lautet der
       Name der Schau – „Titelbilder“, so nennt der Künstler auch eine
       fortlaufende Serie von in Öl auf Leinwand gemalten sloganartigen Sätzen.
       
       Warburg ist 1992 in Frankfurt am Main geboren, Städelschulabsolvent und
       Gründungsmitglied der Guerilla-Kunstkollektivs [2][„Frankfurter
       Hauptschule“]. „Titelbilder“ ist bereits Warburgs dritte Ausstellung bei
       Anton Janizewski, in denen er sich schon an ähnlichen Themen abarbeitete:
       Um deutsche Erinnerungskultur oder auch Geschichtsvergessenheit, die alte
       Bundesrepublik, das Dasein als Künstler, die USA geht es, auch um
       Populismus und Verschwörungstheorien. Jeder Text hat eine Geschichte, die
       sich mal mehr, mal weniger direkt vermittelt, manche sind
       plakativ-provokativ, andere kryptischer, poetischer gar oder die analoge
       Version von – wie es auf einem heißt – „sad screens taken out of context“.
       
       Inmitten der Bilder hängen ebenfalls beschriftete und mit Trump-Aufnähern,
       Hörnern, Plastikrosen und anderen ungute Assoziationen bietenden Details
       ausgestattete Lederjacken an einem Plastikstuhlkreis. Zu deren fiktiven
       Besitzer*innen würde man sich vielleicht eher nicht so gerne
       dazugesellen. Weniger schaurig sind da Warburgs Version von Ulay und
       Abramovic, für die er ebenfalls Lederjacken gestaltet hat.
       
       Ihre Anordnung lässt an die legendäre Performance „Imponderabilia“ aus dem
       Jahr 1977 denken, als Ulay und Abramovic nackt voreinander im Türrahmen
       standen, so dicht, dass sich das Publikum an den Leibern vorbeischieben
       musste. Nur, dass es sich bei Warburg im Gegensatz dazu eben um
       Kleidungsstücke handelt und Platz zum Durchgehen genug ist. Was bleibt da
       noch? Die pure Pose?
       
       Überraschend versöhnlich fällt nach all dem das letzte Titelbild im
       Ausstellungsparcours aus. „Alle wollen immer gleich eine neue Sprache
       erfinden ich will nur sagen ich liebe dich“ steht auf Titelbild 26.
       
       ## Das Spiel mit dem A
       
       Im Jahr 1971 brachte der italienische Künstler Franco Mazzucchelli (*1939
       in Mailand) luftgefüllte PVC-Skulpturen auf das Gelände der Mailänder
       Alfa-Romeo-Fabrik. Runde, längliche und bogenförmige Formen, die sich den
       Arbeitern vor Ort wie bewegliche Hindernisse in den Weg legten. Oder auch
       wie Aufforderungen zum Spiel. „A. to A.“ nennt Mazzucchelli selbst
       solcherlei Kunstwerke, bei denen es sich allesamt um aufgeblasene
       Skulpturen handelt, die er seit den 1960ern in den öffentlichen Raum
       stellte, um so seine eigene Idee eines erweiterten Kunstbegriffs zu
       entwickeln und um damit Reaktionen bei denen, die den Arbeiten begegneten,
       zu provozieren: „A. to A.“ steht für „Art to Abandon“, Kunst zum Ablegen,
       Aussetzen, Preisgeben.
       
       Für Kunst, die sich durch die Aneignung anderer, möglicherweise sogar durch
       die Zerstörung durch andere erst richtig entfaltet. Wie die Arbeiter von
       Alfa Romeo damals auf die Intervention reagierten, irritiert,
       kindlich-spielerisch, zum Teil auch aggressiv, kann man sich in einer
       Videoarbeit bei [3][Klosterfelde Edition] ansehen oder man kann es
       nachlesen auf dokumentarischen Arbeiten, auf denen Mazzucchelli Fotos oder
       auch PVC-Reste klebte und Zitate notierte. Andere, ähnliche Arbeiten
       verweisen auf weitere Interventionen Mazzucchellis aus jener Zeit. Formal
       werden sie bei Klosterfelde mit Werken von Hanne Darboven, Matt Mullican
       und Lara Favaretto zusammengebracht.
       
       Wer eine der Aufblasskulpturen sehen will, muss zu Mazzucchellis Berliner
       [4][Galerie ChertLüdde] gehen. Ein großes weißes Etwas lehnt dort
       windschief zwischen Wand und Boden. Begleitet wird die Skulptur von
       Arbeiten aus Mazzucchellis Serie „Art on Art“: auf Rahmen gespannte Reste
       von früheren Interventionen Mazzucchellis im öffentlichen Raum, die wie
       bunte Zeichnungen an der Wand hängen. Von Passant*innen bekritzeltes PVC
       also, partizipative Kunstwerke mit unbekannter Autor*innenschaft.
       
       Wie solche entstehen, kann man bei ChertLüdde auch live beobachten. Für die
       weiße Aufblasskulptur liegen bunte Filzstifte bereit, um sich auf ihr zu
       verewigen. Für alle, die wie ich ganz am Anfang der Ausstellung vor Ort
       waren, lohnt es sich also am Ende, noch einmal wiederzukommen.
       
       17 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://antonjanizewski.com/
   DIR [2] /Kunstkollektiv-Frankfurter-Hauptschule/!5719894
   DIR [3] https://www.klosterfeldeedition.de/
   DIR [4] https://chertluedde.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Beate Scheder
       
       ## TAGS
       
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