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       # taz.de -- Die Wahrheit: Abends auf der Kommandobrücke
       
       > Bei einem geheimnisvollen Schiffsbau melden sich die eingesetzten
       > geschlechtslosen Quadratmeter: Ihnen ist in der Planungsphase zu kalt!
       
       Sämtliche schriftlichen Unterlagen und Notizen über die allmähliche
       Verwandlung des dem Meer zugewandten Teils des Gebäudes in ein Schiff, ein
       in einer Mappe mit prächtigem floralen Einband aufbewahrtes
       furchteinflößendes Riesenkonvolut aus Blättern, Zetteln und bekritzelten
       Briefumschlägen, waren durch meine Schuld verloren. Jeder Versuch einer
       Rekonstruktion musste als aussichtslos betrachtet werden. Mit der Zeit
       gelang es mir jedoch, den Verlust als Reichtum zu erkennen, und auf dem
       Papier wuchs wieder etwas heran. Erneut stand ich ganz am Anfang meiner
       Forschungsarbeit.
       
       Eines späten Abends kamen die drei geschlechtslosen, sich durch Addition
       vermehrenden Quadratmeter in meine ungeheizte Kammer auf der
       Kommandobrücke. Sie bemängelten, dass es bei mir immer kalt sei.
       
       „Euretwegen werde ich doch nicht heizen!“, empörte ich mich. „Wisst ihr,
       was das kostet?“ Die Tableau-Heizung habe noch keinem geschadet, merkte
       Quadratmeter 2 an. Er/sie unterstellte mir, heimlich ein unbekanntes,
       möglicherweise sogar nicht vorhandenes Zimmer im Haus zu heizen. Die Hitze
       schlüge dort ans Metall und dehne Rohre und Bleche. Man könne es am
       entfernten Rauschen hören. Quadratmeter 1 mischte sich ein: „Bläst beim
       Rauschen denn Wasser ein? Wasser hat doch keinen natürlichen Ausschalter!“
       
       Als Folge dieses Geredes sah ich große schwarze Flecken in der Luft, und es
       waren auch wirklich welche entstanden. Die drei Quadratmeter schienen sie
       aber nicht zu bemerken. Stattdessen fiel ihnen auf, dass auf dem Papier
       wieder etwas heranwuchs, und sie wunderten sich darüber.
       
       „Man muss zuerst Material schaffen“, erklärte ich den komplexen Vorgang.
       „Wozu?“, fragte Quadratmeter 3, der/die die Summe der beiden anderen betrug
       (103), sich von ihnen äußerlich aber nicht unterschied. Quadratmeter 1 (55)
       und Quadratmeter 2 (48) äußerten unisono die Vermutung: „Für einen
       Nervenzusammenbruch?“
       
       Damit spielten sie vielleicht auf die vielen verrückten Partikel an, aus
       denen Welten bestehen konnten, womöglich auch auf meine immerzu
       misslingenden schriftlichen Additionen und meine notorische Verzweiflung
       darüber. Tatsächlich erwarteten sie aber keine Antwort von mir.
       
       Nachdem er/sie einen Blick auf das Papier geworfen hatte, belehrte mich
       Quadratmeter 3: „Du übst noch im Differenzbetrieb. Zur Wahrheit aber
       bezeugt sich die Nachbildung des gemeinten Sinns weit tiefer. Nicht
       unähnlich einer Abformung der in allen Formen festgelegten Worte, ändert
       sich die Möglichkeit ihrer Wandlung.“
       
       Eine so taube Gleichung mochte ich mir nicht bieten lassen. Ich wollte die
       drei Quadratmeter hinausjagen, doch sie waren schon dabei, mich zu
       verlassen. „Bei dir ist es uns zu kalt“, sagten sie beim Hinausgehen. Die
       großen schwarzen Flecken in der Luft hingegen blieben.
       
       15 Nov 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eugen Egner
       
       ## TAGS
       
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