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       # taz.de -- Pro-Palästinensische Demo in Berlin: Grautöne nicht erwünscht
       
       > Tausende protestieren am Samstag gegen die Militäroperation Israels in
       > Gaza. Der Terroranschlag der Hamas findet aber kaum Erwähnung.
       
   IMG Bild: Pyros for Palestine: Die Demonstration verlief am Samstagnachmittag weitgehend friedlich
       
       Berlin taz | Die „Free-Palestine“-Rufe und das Rot-Schwarz-Weiß-Grün der
       palästinensischen Flagge sind am Samstagnachmittag allgegenwärtig.
       Vereinzelt wird Pyrotechnik gezündet, doch die Stimmung bleibt überwiegend
       friedlich. Selbst auf dem breiten Boulevard unter den Linden laufen
       Menschen dichtgedrängt, das Ende der Demo ist kaum absehbar. Am Ende des
       Tages spricht die Polizei von 9.000, die Organisator:innen von bis zu
       20.000 Menschen, die durch Berlin-Mitte ziehen.
       
       Unter dem Motto „Free Palestine will not be cancelled“ hatte ein Bündnis
       aus linken pro-palästinensischen Gruppen bundesweit zur Demo mobilisiert,
       darunter die Palästina Kampagne und die Jüdische Stimme für gerechten
       Frieden in Nahost. Offiziell richtete sich die Demonstration gegen [1][die
       umfassenden Versammlungsverbote], die deutsche Behörden nach dem
       Hamas-Massaker am 7. Oktober gegen pro-palästinensischen Protest
       ausgesprochen hatte.
       
       „Die Demo hat gezeigt, dass die Community in Berlin nicht tatenlos dabei
       zusieht, was in Gaza passiert“, sagt Tim Smith, Pressesprecher der
       Palästina Kampagne, der taz. Nach dem Massaker der radikal-islamistischen
       Hamas am 7. Oktober führt Israel eine umfassende Militärkampagne im
       dichtbesiedelten Gazastreifen durch. Durch die Bombardements sind nach
       Angaben des palästinensischenGesundheitsministeriums über 7.000 Menschen
       zum Opfer gefallen, eine Zahl, die mit dem Beginn der Bodenoffensive noch
       deutlich steigen wird.
       
       Auf Schildern der Demonstrant:innen und in Redebeiträgen wird die
       Reaktion des israelischen Militärs einhellig als [2][Genozid] verurteilt.
       Die Schuldigen an der jüngsten Eskalation des Nahost-Konflikts sind schnell
       benannt: Israel und seine westlichen Verbündeten. „Deutschland finanziert,
       Israel bombardiert“, skandieren die Teilnehmer:innen immer wieder.
       
       ## Friedlicher Verlauf
       
       Neben der arabischen und muslimischen Community Berlins ist vor allem ein
       junges, internationales Publikum dem Aufruf gefolgt. Dementsprechend bunt
       gemischt ist die Menge: Kopftuchtragende Frauen mit Kinderwägen laufen
       neben Lederjackenträger:innen mit buntgefärbten Haaren. Dazwischen
       immer mal wieder ein paar Weiß-deutsche Altlinke, die kommunistische Fahnen
       vor sich hertragen.
       
       Befürchtung im Vorfeld, die Demonstration könnte nachdem Verbot des
       Samidoun-Netzwerks am Donnerstag zu Ausschreitungen kommen, zeigten sich
       unbegründet. Als „mehrheitlich friedlich“, bezeichnete auch eine
       Polizeisprecherin die Demo und bilanzierte am Ende des Tages 68 Festnahmen
       und 36 eingeleitete Strafermittlungsverfahren, die hauptsächlich aufgrund
       des Verstoßens gegen die strengen Demoauflagen erfolgten. Bereits im
       Vorfeld hatte die Polizei angekündigt, streng gegen antisemitische und
       antiisraelische Parolen vorgehen zu wollen.
       
       Nicht wenige der Teilnehmer:innen haben selber Angehörige in Gaza. „Für
       mich ist die Veranstaltung sehr wichtig“, sagt Teilnehmerin Sara, die ihren
       Nachnamen nicht nennen will, der taz. Die 19-Jährige Studentin habe Freunde
       und Verwandte in Gaza, wegen der Informationssperre gebe es aber derzeit
       keinen Kontakt. „Ein Sohn meiner Cousine hat einen Instagramaccount, immer
       wenn er was postet, wissen wir, dass sie noch am Leben sind“.
       
       Grautöne und differenzierte Analysen sind auf der Demo nicht zu finden.
       Offensichtlich ausgeblendet wird [3][die Verantwortung der Hamas]. Das
       Massaker, bei dem über 1.400 Menschen, mehrheitlich Zivilist:innen ihr
       Leben verloren, wird in vielen Redebeiträgen nicht einmal angesprochen.
       Über das Schicksal der über 200 israelischen Geiseln, die sich noch in der
       Gewalt der Hamas befinden, wird ebenfalls kein Wort verloren.
       
       ## Leerstelle Hamas
       
       Auch Sara ist keine Verurteilung der Terrororganisation abzuringen.
       Stattdessen gibt sie zu bedenken: „Die Leute feiern nicht die Hamas, weil
       sie Leute umbringen, sondern weil sie der einzige Funken Hoffnung sind, der
       israelischen Besatzung zu widerstehen.“
       
       Offene Huldigungen oder Flaggen der Hamas finden sich nicht, doch klare
       Verurteilungen sind nur selten zu sehen. Vielleicht auch gar nicht von den
       Veranstalter:innen erwünscht: Wie ein Video auf der X (ehemals
       Twitter) dokumentiert, wird zu Beginn der Demo sogar ein Teilnehmer, der
       ein Schild mit der Aufschrift „Free Gaza from Hamas“ trägt, von den
       Ordner:innen aus der Demo hinauskomplimentiert.
       
       „Es sind schreckliche Dinge am 7. Oktober passiert“, sagt ein Israeli, der
       lieber anonym bleiben, will der taz, „aber das ist gerade nicht das
       Hauptproblem. Das Hauptproblem ist das, was Israel in Gaza macht.“ Der
       37-Jährige sei erst vor vier Monaten von Tel-Aviv nach Berlin gezogen, weil
       er sich zunehmend entfremdet von seinem Heimatland fühlte. Wie auch er sind
       viele jüdische Linke bei dem Protest vertreten. „Es kann keine Sicherheit
       ohne Freiheit für alle geben“, fordert eine Sprecherin der linken Gruppe
       Jüdischer Bund in einem Redebeitrag.
       
       Unklar ist allerdings, wie dieser Weg zum Frieden aussehen soll. Lediglich
       die trotzkistische Gruppe Abeiter:innenmacht äußerte eine erstaunlich
       konkrete Idee: Erst solle der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Generalstreik
       aufrufen und sich dann einer globalen Intifada anschließen. Damit könne
       dann schließlich ein sozialistisches Palästina geschaffen werden, indem
       Jüdinnen*Juden und Palästinenser:innen gleichberechtigt leben
       können.
       
       5 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verbot-gegen-Pro-Palaestina-Demos/!5967483
   DIR [2] /Gaza-im-Voelkerrecht/!5967927
   DIR [3] /Essay-zum-Angriff-der-Hamas/!5967960
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Wahmkow
       
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