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       # taz.de -- Theaterstück „1984“ am Berliner Ensemble: Dystopie als Singspiel
       
       > Regisseur Luk Perceval adaptiert George Orwells Klassiker „1984“. Am
       > Berliner Ensemble kreiert er eine auf Raum und Klang setzende
       > Bühnenversion.
       
   IMG Bild: Oliver Kraushaar, Paul Herwig und Veit Schubert (v.l. ) als Winston und Pauline Knof als Julia
       
       Als Apple 1984 den ersten Personal Computer als revolutionär anpries,
       zerschlug im entsprechenden Werbespot eine junge Heldin mit einem
       Vorschlaghammer einen großen Bildschirm. Vor dem betete eine Menge grauer,
       glatzköpfiger Männer „Big Brother“ an. 1984 werde [1][nicht wie „1984“],
       suggerierten nach dem Hammerwurf in die Mattscheibe die Computerwerber, und
       brachten das regenbogenfarbene Apple-Logo auf den Bildschirm.
       
       Ein paar Jahrzehnte später sind der Apple-Revolution aushorchende Stimmen
       wie Siri und Alexa, Überwachungskameras und Cookies entsprungen. Die grauen
       Glatzköpfe, im Werbespot pikanterweise gespielt von britischen Skinheads,
       sollte man sich heute eher als schrill-bunt diverse Masse vorstellen, die
       mit ihren Endgeräten in den eigenen Wohlfühlblasen hockt und dort den Hass
       gegen die nährt, die anders schrill-bunt und anders divers sind.
       
       Luk Perceval nimmt aus dem von [2][Kultregisseur Ridley Scott] gedrehten
       „1984“-Spot von Apple vor allem die inzwischen recht altertümlich wirkenden
       grauen Gestalten. Grau ist Winston, der Protagonist, der gegen Big Brother
       aufbegehrt, dann aber als Dissident entdeckt, verhaftet und gefoltert wird.
       Grau-beige ist Julia, die zwischenzeitliche Geliebte, die Winston erst
       fälschlicherweise für eine Agentin hält, die ihn dann aber doch unter
       Folter verrät.
       
       Immerhin wird Winston in gleich vier Schauspieler aufgespalten. Das hat
       komisches Potential, wenn sie sich mal ins Wort fallen oder den Gedanken
       des anderen Winston-Ichs schon vorausahnen. Erst recht kommen die Lacher,
       wenn Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar und Veit Schubert sich in
       Vorbereitung des Liebesakts mit Julia zunächst schüchtern in eine Ecke
       drängen und dann gegenseitig ihrer Kleider entledigen.
       
       ## Gesamter Text auf Projektionsfläche
       
       Gern nehmen sie sehr unterschiedliche Körperhaltungen ein. Während einer am
       Boden hockt, verdreht ein anderer halb aufrecht den Torso, ein dritter
       klettert hoch auf ein Lattengerüst.
       
       Ja, so ein Mensch ist vielschichtig und komplex. „Ich ist ein anderer“,
       bemerkte schon der Dichter Arthur Rimbaud. [3][Perceval choreografiert]
       Körperhaltungen und Bewegungen für ein möglichst komplex komponiertes Ich.
       Zu dem gehört ein Über-Ich: Die Worte von O’Brien, dem Agent Provocateur
       von Big Brother, werden ebenfalls vom Winston-Quartett gesprochen, als
       innere Stimme, die verführt und dominiert, die zweifeln und verzweifeln
       lässt.
       
       Das sind allesamt kluge Kunstgriffe. Sie erschöpfen sich aber nach einer
       Weile. Länger noch hält die Raumidee. Bühnenbildner Philip Bußmann
       platziert das Ensemble vor einer mächtigen Spiegelwand, die aus zwei in
       spitzem Winkel zueinander befindlichen Flügeln besteht. Der vierfache
       Winston multipliziert sich dort dutzendfach. Die Rückwand, sichtbar bei
       Rotationen der Drehbühne, ist schön totalitär gerastert mit dem Holzgerüst
       der Halterungen.
       
       Als Clou lässt Perceval den gesamten Text im Rücken der Zuschauer auf einer
       großen Projektionsfläche ablaufen. Das mag technische Hilfe für das
       chorische Sprechen der Winstons sein. Die Textfläche, die man verschwommen
       auch vorn im Bühnenspiegel wahrnimmt, suggeriert aber auch, die Worte seien
       schon immer da und das Theater sei ein Resonanzraum gleich einem riesigen
       Schädel.
       
       ## Kein Raum für Diskurse
       
       Zu diesem immersiven Effekt trägt weiter bei, dass ein Frauenchor –
       grau-beige gekleidet wie Julia-Darstellerin Pauline Knof – anfangs in den
       Logen steckt. Ihr Wispern und Flüstern, später ihr archaisch anmutender
       Gesang, dringen also aus dem großen Publikumskörper selbst. Die Gesänge,
       die auf Überlieferungen alter Lieder aus Italien und Korsika beruhen,
       strukturieren den Abend und geben ihm das Gepräge einer Messe.
       
       Welche Instanz hier angerufen wird, bleibt aber unklar. Perceval
       persifliert einerseits das Totalitäre, das von außen gesehen oft
       unfreiwillig komisch wirkt. Er nascht aber auch von dessen Bombast und
       verfällt später in einen distanziert-warnenden Duktus. Bourgeois-altmodisch
       wird es gar, wenn O’Brien als Folterer intellektuelle Zwiesprache mit dem
       malträtierten Winston hält.
       
       Heute machen Gewalttäter eher kurzen Prozess wie „Islamischer Staat“ oder
       Hamas mit ihren Enthauptungen. Oder Drohnen und Raketen schlagen aus großer
       Entfernung wie Blitz und Donner aus Gotteshand ein.
       
       Kein Raum für Diskurse, nicht einmal für macchiavellische. Perceval greift
       nach einem großen Stoff, der antiquiert und naiv in manchen konkreten
       Beschreibungen totalitärer Manipulation wirkt, und der zugleich
       hyperaktuelle Momente enthält. Und auch die Inszenierung selbst dockt mal
       am Antiquierten an, während in den gelungenen Momenten die Hyperaktualität
       durchbricht. Es ist alles in allem eine schwankende Fahrt in unsicheren
       Gefilden.
       
       19 Nov 2023
       
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