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       # taz.de -- Demografische Krise in Russland: Dann sollen sie doch mehr gebären
       
       > Demografieproblem? Darauf kennen Kreml und Kirche die Antwort: 20-jährige
       > Frauen müssten eben das erste Kind bekommen, statt zu studieren.
       
   IMG Bild: Präsident Putin mit Kindern der Jugendarmee am Tag der Einheit des Volkes am 4. November
       
       Moskau taz | „Seien wir doch mal ehrlich“, sagt die Familienministerin der
       russischen Region Baschkortostan, Lenara Iwanowa in die Kamera, „qualitativ
       hochwertige Kinder gibt es, wenn eine Frau sie mit 20 Jahren zur Welt
       bringt. Kinder, die später geboren werden, sind Ausschussware.“ Dem
       Moderator fällt in dem Augenblick nicht etwa das Mikro aus der Hand, er
       macht einfach beflissen weiter mit seinen Fragen.
       
       Iwanowa meldet sich derweil wenige Tage nach ihrem Auftritt in der
       [1][Youtube-Sendung „Aspekte – Baschkortostan“] wieder zu Wort, klagt über
       „zu viel erboste Kommentare“ wegen ihrer Aussagen. Sie habe sich doch
       lediglich „versprochen“, sagt sie.
       
       Am Inhalt dieser Aussagen hält sie nach ihrer halbherzigen Entschuldigung
       jedoch weiterhin fest: Russlands Frauen sollen zu Frühgebärenden werden,
       der Staat müsse ihnen das mit allerlei Maßnahmen schmackhaft machen. Doch
       nicht etwa mit sozialer Versorgung, mit Maßnahmen, die eine gesicherte
       Zukunft garantieren statt Männer zu Kanonenfutter in einem Krieg zu machen,
       sondern mit etlichen Verboten.
       
       Der Gesundheitsminister Michail Muraschko spricht von einer „festsitzenden
       verwerflichen Praxis“, dass eine Frau erst eine Ausbildung machen und eine
       finanzielle Basis schaffen solle, um dann ein Kind zu haben. Nein, sagt er,
       schon in der Schule müsse den Mädchen erklärt werden, dass sie erst gebären
       sollen und dann an eine Ausbildung denken könnten.
       
       ## Die Rolle der Frau wird überall debattiert
       
       Die Debatte ums Gebären, den Zeitpunkt des Kinderkriegens, der
       Abtreibungsverbote, letztlich um die Rolle der Frau in der Gesellschaft
       wird derzeit in jeder russischen Talkshow und auch im Kreml geführt.
       
       Russlands Präsident Wladimir Putin beklagt seit jeher die Demografie im
       Land, um die es in der Tat schlecht steht. Im ersten Halbjahr dieses Jahres
       sank die Geburtenrate im Vergleich zum vergangenen Jahr um 29 Prozent.
       Russische Frauen bekommen im Durchschnitt 1,6 Kinder, in Deutschland liegt
       die Geburtenrate bei 1,4 Kindern pro Frau. Der russische Sozialfonds
       prognostizierte im Oktober, die Geburtenrate werde in diesem Jahr nochmals
       um 5,8 Prozent auf knapp eine Million Entbindungen sinken. Damit würde ein
       Wert wie in den frühen 1990ern erreicht, ein Wert [2][so tief wie nie in
       den vergangenen Jahren].
       
       Die Konservativen des Landes wie auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen
       Kirche wissen genau, woran das liege, und überbieten sich mit ihren
       Vorschlägen: Abtreibungen sollten verboten werden, junge Frauen noch vor
       Ausbildung oder Studium Kinder gebären – und sich endlich wieder ihrer
       „Gebärfunktion“ gewahr werden, wie es die Senatorin der Region
       Tscheljabinsk, Margarita Pawlowa, ausdrückte. Werde das erste Kind mit 20
       geboren, könne eine Frau so auch unproblematisch bis zu fünf Kinder auf die
       Welt bringen. Wer sie versorgen soll und wovon, sagt Pawlowa nicht.
       
       ## Keine Abtreibung nach Vergewaltigung
       
       Selbst nach einer Vergewaltigung, erklärt der Priester Filipp Iljaschenko
       im russischen Staatsfernsehen, müsse ein Kind zur Welt gebracht werden.
       „Was kann denn das Kind für die Art seiner Zeugung?“ Der oberste Patriarch
       Kirill will die russische Bevölkerung gar „mit einem Zauberstab vermehren“:
       Bringe man Frauen von einer [3][Abtreibung] ab, würde die
       Bevölkerungsstatistik sofort steigen, behauptet er. Deshalb müsse ein
       landesweites Abtreibungsverbot her.
       
       In zwei Regionen existiert ein solches bereits, in weiteren Regionen
       verzichten manche privaten Kliniken „freiwillig“ auf derartige Operationen.
       Ab kommendem Jahr soll zudem der Verkauf von Abtreibungsmedikamenten
       eingeschränkt werden. „[4][Der Krieg] ist der Grund für die sinkende
       Geburtenrate, wie auch Armut, Alkoholismus, Krankheiten“, sagt Aljona
       Popowa, die sich für Frauenrechte in Russland einsetzt. „Der Staat setzt
       auf Populismus, um von den wahren Problemen abzulenken, und hat deshalb das
       Thema Abtreibungen aus der Mottenkiste geholt.“
       
       Eine „Epidemie der Abtreibungen“, von der die Konservativen des Landes
       sprechen, gibt es in der Tat nicht in Russland. Nach Angaben der
       staatlichen russischen Statistikbehörde fallen die Zahlen jährlich um 6
       Prozent und sind in diesem Jahr so niedrig wie seit 1991 nicht mehr.
       
       21 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/channel/UC1pk6ThMhzzpzwUfW0OGqmQ
   DIR [2] /Fuer-jedes-Neugeborene-gibt-es-Geld-oder-einen-Kuehlschrank/!268363/
   DIR [3] /!1574977/
   DIR [4] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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