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       # taz.de -- Antisemitismus im Kulturbetrieb: Raus aus der Geisterbahn
       
       > Die antiimperialistische Linke hat ein Problem: Antisemitismus. Wie kann
       > sie aus den Trugschlüssen finden, in die sie sich verstrickt hat?
       
   IMG Bild: Zehntausend Menschen demonstrieren am 4.11. in Berlin unter dem Motto „Free Palestine will not be cancelled“
       
       „Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz“, sagt die Regierung;
       Antisemiten sei die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen, sagt der
       Oppositionsführer. Im Ernst? Da könnten im ganzen Land bald viele Wohnungen
       frei werden. Doch wenn von der Aberkennung der Staatszugehörigkeit
       fabuliert wird, geht es natürlich nicht um biodeutsche Antisemiten, sondern
       um Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Und um solche, die überhaupt
       erst hineinwollen in eine BRD, in der Antisemitismus seit 1949 sehr wohl
       einen festen Platz hat.
       
       Das weiß auch der Wirtschaftsminister. Wer den Fokus auf den
       „islamistischen Antisemitismus“ legt, dürfe sich nicht darüber täuschen,
       „dass es auch einen in Deutschland verfestigten Antisemitismus gebe“, so
       Robert Habeck. Sorgen mache ihm „aber auch der Antisemitismus in Teilen der
       politischen Linken“.
       
       Verteufelt werden dort die Selbsterhaltungsmaßnahmen des Staates Israel,
       der gegen Kräfte angeht, die für seine Eliminierung kämpfen und dabei
       foltern und morden. Nach dem Pogrom vom 7. Oktober, schrieb der Philosoph
       [1][Philip Hogh im Neuen Deutschland], sei „ein erschreckendes Ausmaß an
       klammheimlicher und offener Freude über die zum ‚palästinensischen
       Befreiungskampf‘ euphemisierten Morde der Hamas ans Tageslicht“ gekommen.
       Es sei „erneut offensichtlich geworden, dass es innerhalb vieler sozialer
       Bewegungen ein Antisemitismusproblem gibt, das sich [2][bis an die
       Universitäten fortsetzt]“.
       
       Im akademischen Betrieb und in den Kulturinstitutionen ist eine
       Verurteilung des Terrorangriffs auf die israelische Bevölkerung nicht
       konsens-, ja oft noch nicht einmal mehrheitsfähig. Die Kälte derer, die im
       März 2022 ohne Wenn und Aber die Ukraineflagge aufpflanzten, sich nun aber
       – angesichts eines Pogroms gegen Jüdinnen und Juden, wie es die Welt seit
       Jahrzehnten nicht gesehen hat – lieber heraushalten und ausdrückliche
       Solidarisierungen mit den Opfern verweigerten, ist mindestens irritierend.
       Und die sogenannte antiimperialistische Linke toppt das noch: durch
       lautstarke Solidarisierungen mit jenen Tätern, die das als Apartheitstaat
       diffamierte Israel vernichten wollen.
       
       Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls, bemerkte im 19.
       Jahrhundert ein österreichischer Sozialdemokrat: die ressentimentgeladene
       Simplifikation eines abstrakten Vergesellschaftungs- und
       Ausbeutungsverhältnisses. Man biologisiert gleichsam den
       Industriekapitalismus und fantasiert „die Juden“ als seine Personifikation.
       
       Ist linker „Antiimperialismus“, der Israel für einen kriegsverbrecherischen
       Kolonisator im Dienst des Weltkapitals hält, heute die Kapitalismuskritik
       der dummschlauen Kerle (m/w/d)? Um das zu analysieren, hat sich die Rede
       vom „israelbezogenen Antisemitismus“ durchgesetzt. Sowohl der
       antizionistische Furor als auch die kalte Indifferenz gegen jüdische Opfer
       sollten Anlass geben, über Aussteigerprogramme aus dieser Geisterbahn
       nachzudenken.
       
       ## Befreiungskampf ist in Wahrheit Unterdrückungsfantasie
       
       Grundlage könnte folgende Einsicht sein: Wer sich die Vernichtung des
       Staates Israel zum Lebenszweck macht, will niemanden von staatlicher
       Herrschaft befreien. Er will „die eigenen Leute“ einem – teils imaginären,
       teils realen – autoritären Staat unterwerfen. Was Hamas und Hisbollah als
       Befreiungskampf verkaufen, ist in Wahrheit Unterdrückung im Namen
       größenwahnsinniger religiöser Fantasien, namentlich Gottesstaat, Kalifat.
       Das seit Jahrzehnten andauernde Leiden der Palästinenser*innen ist
       ihre Verhandlungsmasse im Kampf um die Herrschaft.
       
       Indem sie die Verteidigungsschläge der israelischen Armee heraufbeschwört,
       nimmt Hamas nicht nur israelische Juden als Geiseln, sondern auch die
       Bevölkerung des Gazastreifens. Hat die antiimperialistische Linke einen
       blinden Fleck auf dem rechten Auge? Die Unterwerfung der Besitzlosen unter
       aufrührerische Anführer dient der Etablierung neuer, tendenziell
       faschistischer Klassenherrschaft.
       
       Ein nächster Ausstiegsschritt wäre: sich darüber klar werden, [3][dass der
       Judenhass im Nahen Osten nicht das Ergebnis, nicht die „Folge der Gründung
       Israels“ und des Nahostkonflikts ist, sondern „eine der zentralen Ursachen
       dieses Konflikts“], wie Stephan Grigat schreibt. Linke sollten sich vom
       Mythos verabschieden, „die Juden“ hätten Ende der 1940er Jahre „die
       Palästinenser“ aus ihrer Heimat vertrieben.
       
       ## Achtung bei Delegtimierung und Doppelstandards
       
       Die NS-nahe Muslimbruderschaft mobilisierte nach 1945 die Massen im
       arabischen Raum. Sie bereitete die militärische Invasion von 1948 vor, die
       „zur Flucht und Vertreibung von Hunderttausenden Arabern aus Palästina“
       führte; die Invasion löschte nicht, wie vorgesehen, „den Teilstaat der
       Juden“ aus, [4][„sondern das arabische Palästina“, wie Matthias Küntzel
       dargelegt hat]. Solange das nicht verstanden wird, hört das wütende
       Anrennen „gegen den kollektiven Juden Israel“ (Grigat) nicht auf.
       
       Der letzte Schritt könnte im Nachdenken über ideologische [5][Kreuzungen
       von Postkolonialismus und Judenhass] bestehen. Dort herrscht teils die
       Ansicht, dass israelische Juden sich als Opfer der Weltgeschichte
       stilisierten. Wenn aber „palästinensisch-arabische Gewalt und
       Judenfeindschaft de-realisiert“ wird, wenn „Israel als rassistische Entität
       mit Analogien zum Nationalsozialismus dämonisiert und delegitimiert wird
       und doppelte Standards in der Analyse des israelisch-arabischen Konflikts
       angelegt werden“ – dann sind, so Ingo Elbe, „meist alle Kriterien des
       israelbezogenen Antisemitismus erfüllt“.
       
       Der Historiker Moshe Zuckermann meinte kürzlich [6][in der Berliner
       Zeitung], israelbezogener Antisemitismus sei primär ein Slogan, um
       Israelkritik zu verhindern, nicht um Antisemitismus zu bekämpfen. Dem ist
       zu entgegnen: abusus non tollit usum. Primär handelt es sich dabei um eine
       ideologiekritische Kategorie. Sie ist notwendig – und, wie andere auch,
       nicht automatisch immun gegen Missbrauch.
       
       21 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177172.antisemitismus-gesellschaftskritik-und-antisemitismus-grund-zur-selbstkritik.html
   DIR [2] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/kommentar-zu-den-us-universit%C3%A4ten-antisemitismus-der-k%C3%BCnftigen-elite/ar-AA1js6LU
   DIR [3] /Israels-Unabhaengigkeitskrieg-von-1948/!5929931
   DIR [4] http://www.matthiaskuentzel.de/contents/warum-wurde-1948-kein-arabischer-staat-in-palaestina-gegruendet
   DIR [5] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296
   DIR [6] https://www.berliner-zeitung.de/open-source/historiker-moshe-zuckermann-baerbock-ist-schlicht-und-ergreifend-keine-israelin-li.2149572
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gerhard Schweppenhäuser
       
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