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       # taz.de -- Wahlen in den Niederlanden: Am Klima scheiden sich die Geister
       
       > Am Mittwoch wählen die Niederlande ein neues Parlament. Nachhaltigkeit
       > ist dabei wichtig – auch wegen Ex-EU-Kommissar Frans Timmermans.
       
   IMG Bild: Frans Timmermans (Mitte) bei einer Klima-Demonstration in Amsterdam am 12. November
       
       Amsterdam taz | Es schien ein meisterhafter Schachzug, als [1][Frans
       Timmermans im Juli seine Rückkehr in die niederländische Politik]
       ankündigte. Ein Spitzenkandidat vom Kaliber des [2][Brüsseler „Mr Green
       Deal“], ein Sozialdemokrat also mit maximaler grüner Reputation, schien
       nicht nur der gemeinsamen Listenverbindung Auftrieb geben zu können,
       sondern auch Ökologie und Klima hoch auf die Wahlkampf-Agenda zu bringen.
       Zumal Timmermans die „Klimakrise“ ausdrücklich als eine der „gigantischen
       Herausforderungen“ nannte, die es anzugehen gelte.
       
       Unmittelbar vor den Wahlen an diesem Mittwoch sieht das vorläufige Fazit
       nuancierter aus: Timmermans´ Kandidatur hat zwar dafür gesorgt, dass die
       rot-grüne Listenverbindung stärker dasteht als die Summe ihrer zuvor eher
       darbenden Teile. Mit laut Umfragen 23 der 150 Parlamentssitzen liegt sie
       nur knapp hinter der rechts-liberalen Regierungspartei VVD und dem
       sozialkonservativen Nieuw Sociaal Contract (NSC). Klima und
       Klimagerechtigkeit waren ein essentieller Teil ihrer Kampagne und sind für
       viele Wähler*innen ein Grund, ihr Kreuz bei „PvdA-GL“ zu machen.
       
       Andererseits zeigt just dieses Thema die [3][starke Polarisierung der
       niederländischen Gesellschaft]. Schon die Rückkehr des auch als
       „Klima-Papst“ verspotteten Timmermans´ war von hetzerischen Tönen in
       rechten Talkshows und sozialen Medien begleitet. Sie vereinten das
       Feindbild EU mit jenem der Klimapolitik und ihren Reduktionszielen.
       Inhaltliche Schnittmenge: beide werden als realitätsferne und sozial
       ungerechte Gängelung einfacher Bürger*innen dargestellt.
       
       Andere Parteien, die grüne Politik oben auf ihrer Agenda haben, spielen
       keine wesentliche Rolle. Die Partij voor de dieren, klimapolitisch die
       ambitionierteste Akteurin, stagniert laut Umfragen bei ihren derzeitigen
       fünf Parlamentssitzen, der progressiven VOLT werden drei vorausgesagt, die
       linksliberalen D66 steuern nach ihrer jüngsten Regierungsteilnahme auf eine
       Wahlklatsche zu. Die Mehrheit der niederländischen Stimmen geht an Parteien
       rechts der Mitte. Dort spielen Klima, Ökologie und Natur eine
       untergeordnete Rolle.
       
       ## Rechtsliberale wollen mehr Atomkraftwerke bauen
       
       So setzen die [4][VVD] und die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid
       auf Migrationsbeschränkung und Sicherheit, der sozialkonservative NSC auf
       bezahlbare Wohnungen, Nahrungsmittel und Energie. Die VVD will zwar an
       Klimazielen festhalten, dafür freilich „mehr Atomkraftwerke bauen“- einen
       Kurs, den schon die im Juli gestürzte Koalition fuhr und der von Timmermans
       im Wahlkampf scharf angegriffen wurde.
       
       Kompromissbereiter zeigte er sich beim Dauerthema Stickstoffreduzierung:
       gegen Ende des Wahlkampfs gab Timmermans an, nicht unbedingt am Zieljahr
       2030 für eine Halbierung der Emissionen festzuhalten, um Bäuer*innen
       entgegenzukommen. Die [5][„Stickstoff-Krise“] ist im Land des prozentual
       größten Emissärs der EU Dauerthema und führte im Sommer 2022 zu
       wochenlangen Demonstrationen.
       
       Also: Grüne Aspekte haben im Wahlkampf durchaus eine große Rolle gespielt,
       aber nur sehr milieuspezifisch. Es steht daher weniger zu erwarten, dass
       Parteien mit nachhaltiger Agenda am Mittwoch in großem Stil abgestraft
       werden, wie das zuletzt in der Schweiz, Luxemburg oder bei den
       Landtagswahlen in Bayern und Hessen geschah. Wohl spiegelt sich auch hier
       jene Art von Klima-Müdigkeit wider, die Emmanuel Macron und Belgiens
       Premier Alexander De Croo schon im Mai thematisierten, als sie eine „Pause“
       bei Klimaschutz-Gesetzen anregten.
       
       Von der Ambivalenz des niederländischen Diskurses zeugt auch, dass
       einerseits die aktivistische Klimabewegung eine der stärksten des
       Kontinents ist. Dank der von Extinction Rebellion angeführten
       Autobahn-Blockaden etwa berät das Parlament über einen Abbau fossiler
       Subventionen. Hinzu kommt, dass die niederländische Justiz eine
       Vorreiterrolle auf dem Feld der Klima-Rechtsprechung einnimmt und mehrfach
       den Staat oder multinationale Großkonzerne zu Klimaschutzmaßnahmen oder
       Entschädigungen verurteilte. Dagegen steht das in konservativen Kreisen
       populäre Schlagwort des „Klima-Optimismus“, dem zufolge die großen
       industriellen Akteure der Gegenwart wie Shell oder der Stahlproduzent Tata
       Steel durch Innovation auch Schlüsselrollen im postfossilen Zeitalter
       einnehmen.
       
       In dieser Konstellation ist auch die [6][Amsterdamer Klimademo] zu sehen,
       die Mitte November mit etwa 85.000 Teilnehmenden zur größten Kundgebung
       ihrer Art in der Landesgeschichte wurde. Gerade die inhaltliche Kopplung
       der Veranstaltung an „Gerechtigkeit“ führte zu den bekannten Kontroversen
       rund um Greta Thunberg und ihren Thesen zum Nahost-Krieg. Das zeigt aber
       auch, dass das Thema für einen großen Teil der WählerInnen fest mit
       sozialer Gerechtigkeit und Verteilungsfragen verbunden ist.
       
       21 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /EU-Kommissionsvize-Timmermans-verlaesst-Bruessel/!5948832
   DIR [2] /Von-der-Leyens-Rede-vor-EU-Parlament/!5956904
   DIR [3] /Klimaschutz-in-den-Niederlanden/!5966333
   DIR [4] /Streit-um-Fluechtlingspolitik/!5943321
   DIR [5] /Eine-Vermessung-der-Niederlande/!5935631
   DIR [6] /Greta-Thunberg-und-der-Nahostkonflikt/!5969485
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
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