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       # taz.de -- Ökonom über Wohnungskrise: „Es geht um ungenutzte Wohnflächen“
       
       > Bauen sei teuer, umweltschädlich und fördere Spaltung, sagt Ökonom Daniel
       > Fuhrhop. Es brauche Alternativen zum Neubau.
       
   IMG Bild: Kränlein dreh dich (nicht): eine Baustelle in Berlin
       
       taz: Herr Fuhrhop, am Donnerstag und Freitag kommen die
       Bauminister*innen der Länder zusammen und sind wild entschlossen, mehr
       Wohnungen zu bauen. Müsste man sie bei dem Vorhaben stoppen? 
       
       Daniel Fuhrhop: Die Frage erübrigt sich weitgehend von alleine, denn im
       Moment klappt es sowieso nicht mit dem Neubau. Die Preise sind explodiert,
       es mangelt an Fachkräften, an Bauland, manchmal sogar an Baustoffen. Die
       Zahl der neuen Wohnungen wird vermutlich nicht steigen, sondern im
       Gegenteil eher sinken. Genau darum brauchen wir Alternativen.
       
       Sie haben mal eine Streitschrift geschrieben mit dem Titel: „Verbietet das
       Bauen“. Finden Sie es falsch, dass die Regierung sich vorgenommen hat,
       [1][400.000 neue Wohnungen pro Jahr] zu bauen? 
       
       In der Tat freue ich mich etwas, dass jetzt weniger gebaut wird. Auch wenn
       wir ganz bestimmt Wohnungen brauchen, halte ich es für falsch, 400.000
       Wohnungen allein durch Neubau herzustellen.
       
       Was stört Sie daran? 
       
       Bauen ist erstens sehr teuer, zweitens fördert es die soziale Spaltung, und
       drittens [2][ist es sehr umweltschädlich], und zwar in einem Maße, das
       bisher noch gar nicht so bekannt ist.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Ich habe auf Grundlage von vielen Fakten Berechnungen angestellt. Nehmen
       wir mal die 400.000 Wohnungen, die im Jahr gebaut werden sollen. Diese
       würden das Klima in ihrem Lebenszyklus mit bis zu 99 Millionen Tonnen CO2
       belasten. Der Schaden durch diese 400.000 Wohnungen wäre höher als der
       Betrieb sämtlicher über 40 Millionen Altbauwohnungen, die wir in
       Deutschland haben. Das wäre ein totales Desaster.
       
       Wie sind Sie auf diese Summe gekommen? 
       
       Treibhausgase werden in drei Bereichen verursacht. Erstens durch den Bau
       selbst, etwa die Herstellung von Zement, zweitens durch den Betrieb und
       drittens kommt eine Wohnung selten allein, sondern wir haben neue
       Baugebiete mit Straßen und Leitungen. Das meine ich mit Lebenszyklus, es
       ist eine ganzheitliche Betrachtung, wie schädlich Neubau ist.
       
       Was sind denn die Alternativen zum Neubau? 
       
       Das statistische Bundesamt unterscheidet zwischen Wohnraum, der durch
       Neubau entsteht, und Wohnraum, der im Bestand entsteht, also in Altbauten,
       zum Beispiel, wenn ein Dachgeschoss ausgebaut wird oder aufgestockt wird.
       Das ist erheblich klimafreundlicher und flächenschonender, als neu zu
       bauen. Das könnten wir auf jeden Fall steigern. Ich sehe aber noch einen
       dritten Bereich: Den unsichtbaren Wohnraum.
       
       Zu diesem Thema haben Sie Ihre Dissertation verfasst. Wo sehen Sie
       Wohnraum, den andere nicht sehen? 
       
       Es geht um Wohnungen und Flächen, die einfach nicht genutzt werden. Das
       kann ein Zimmer sein, zwei Zimmer oder eine ganze Wohnung. Wenn Menschen in
       großen Wohnungen oder Häusern diesen Platz nicht benötigen, kann man
       Angebote unterbreiten, wie man diese Fläche anders nutzen kann.
       
       Viele ältere Leute wohnen auf viel Fläche alleine, zum Beispiel, wenn
       Kinder ausgezogen sind. Die sollen sich jetzt Mitbewohner*innen
       suchen?
       
       Nur, wenn sie das selbst wollen. Ich sehe kein Problem darin, dass Menschen
       auf großer Fläche wohnen oder in einem großen Haus. Es hilft nicht, zu
       moralisieren. Wenn sich Menschen aber zum Beispiel einsam fühlen nach dem
       Auszug der Kinder oder auch dem Tod des Partners und das gerne ändern
       möchten, wäre es doch eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, zu
       helfen und zu beraten.
       
       Wie viel Potential sehen Sie in solchen Wohnformen? 
       
       Es gibt bereits hier und in Nachbarländern Beispiele dafür, wie
       unsichtbarer Wohnraum nutzbar gemacht wird. Auf dieser Grundlage, also auf
       real messbaren Zahlen, habe ich abgeschätzt, was herauskommen würde, wenn
       wir in ganz Deutschland diese Modelle professionell anbieten würden. Da
       komme ich auf 100.000 Wohnungen im Jahr, die mobilisiert werden können.
       Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir drei bis fünf Jahre lang die
       entsprechenden Strukturen schaffen. Das heißt, Personal für Beratung und
       Vermittlung ausbilden und diese Programme bekannt machen.
       
       Welche Modelle gibt es denn schon in Deutschland? 
       
       Ich habe in meiner Arbeit das generationenübergreifende Modell „Wohnen für
       Hilfe„ untersucht, das es an über 30 Orten gibt. Meist ziehen junge
       Studierende oder Auszubildende zu älteren Menschen und zahlen keine oder
       nur eine kleine Untermiete. Dafür helfen sie beim Einkaufen oder im Garten.
       Leider sind die meisten Stellen davon in Deutschland auf einem sehr
       niedrigen Niveau mit schlechter Ausstattung und mäßig erfolgreich. Es gibt
       einige gute Ausnahmen in Köln, Freiburg und München. Aber wenn man richtig
       professionelle Beispiele sehen will, dann sollte man nach Belgien,
       Frankreich oder Großbritannien gucken.
       
       Was ist dort besser? 
       
       Der Unterschied liegt vor allem in der Professionalisierung der
       Vermittlungsarbeit. Es gibt in den anderen Ländern professionelle
       Netzwerke, in denen dutzende einzelne Vermittlungsstellen entweder
       kooperieren oder gemeinsam eine Organisation formen. Dadurch gibt es dann
       Leitfäden für die Arbeit und einen intensiven Austausch. Ein großer
       Unterschied ist auch: in 16 von 17 Staaten, in denen es solche Modelle
       gibt, werden Servicepauschalen oder Gebühren für die Vermittlungsarbeit
       genommen. Dafür bekommt man die Sicherheit, bei ernsthaften Problemen
       sofort zum Telefon greifen zu können und unterstützt zu werden. Der Vorteil
       ist, dadurch refinanzieren sich diese Programme zumindest teilweise. In
       Deutschland wird diese Dienstleistung kostenlos angeboten. Das hört sich
       nett an, hat nach meinen Recherchen aber leider zur Folge, dass die Modelle
       oft nach einiger Zeit wieder eingestellt werden.
       
       Um vorhandene oder ungenutzte Flächen besser zu nutzen, gibt es ja auch die
       [3][Idee des Wohnungstauschs]. Das geht doch in eine ähnliche Richtung,
       oder? 
       
       Eine Person, die sehr viel Raum hat und den anders nutzen möchte, hat viele
       Möglichkeiten. Sie könnte Untermieter aufnehmen, umziehen, etwas abtrennen,
       eine kleinere Wohnung umbauen oder auch gemeinschaftlich wohnen und Fläche
       sparen. Von diesen Optionen ist der Wohnungstausch die komplizierteste
       Variante. Sehr oft ist zum Beispiel eine kleinere Wohnung teurer als eine
       große, und das erschwert dann den Tausch, oder im Bereich der Miete müssen
       die verschiedenen Vermieter zustimmen. Solche Herausforderungen lassen sich
       zwar lösen, und es gibt einige Erfolgsansätze, aber grundsätzlich rate ich
       dazu, dass wir erst mal die bewährten Modelle stärken, wie eben die
       Vermittlung von Alt und Jung oder das, was ich soziale Wohnraumvermittlung
       nenne.
       
       Was ist damit gemeint? 
       
       Ich habe kürzlich in Karlsruhe den Sozialbürgermeister besucht. Sie
       betreiben dort seit bald 20 Jahren ein Modell, wo es um die Vermittlung von
       Sozialmietern geht. Es gibt Eigentümer, die keine Lust mehr haben zu
       vermieten, weil sie mal schlechte Erfahrungen hatten, etwa mit Mietnomaden.
       In diesem Modell wird den Eigentümern die Miete garantiert, bei
       auftretenden Problemen kümmern sich eigene Mitarbeiter darum, und es gibt
       noch einen Renovierungszuschuss. Im Gegenzug werden die Wohnungen als
       Sozialwohnung vermietet.
       
       Von welcher Größenordnung reden wir hier? 
       
       Allein in einem Jahr wurden so 60 leerstehende Wohnungen wieder an den
       Markt gebracht. Das ist doch Wahnsinn! Insgesamt wurden in Karlsruhe auf
       diese Weise 1.300 Sozialwohnungen in Altbauten geschaffen. Da ahnt man
       doch, welch gigantisches Potenzial es für Deutschland gibt, um in Altbauten
       Wohnraum zu mobilisieren.
       
       Ist der Traum vom eigenen Haus heutzutage überholt? 
       
       Nein, auch zukünftig kann jeder den Traum vom Eigenheim leben, aber es muss
       ja kein neues sein. Es gibt bereits 15 Millionen Einfamilienhäuser in
       Deutschland. Beim [4][vergangenen Wohnungsgipfel] wurde beschlossen, dass
       bundesweit das Förderprogramm Jung kauft alt eingeführt werden soll. Das
       ist ein Förderprogramm für Menschen, die ein altes Haus kaufen und dort
       selbst einziehen. Das begrüße ich! Neubau schädigt nicht nur das Klima,
       sondern verbraucht extrem viel Fläche und wir sollten unseren wertvollen
       Boden sinnvoller nutzen.
       
       24 Nov 2023
       
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