URI: 
       # taz.de -- Nachruf auf Philosoph Enrique Dussel: Denker der Transmoderne
       
       > Enrique Dussel beeinflusste über Generationen die Debatten um linke
       > Theorie und Praxis. Am Sonntag starb er in Mexiko-Stadt. Ein Nachruf.
       
   IMG Bild: Der Philosoph Enrique Dussel (1934–2023)​ war zentraler Stichwortgeber dekolonialistischer Theorie
       
       Es ist nur ein winziges, aber schönes Detail in einer beeindruckenden Vita
       mit zwei Doktortiteln und verschiedenen Professuren: Zu Beginn seiner
       Laufbahn arbeitete der spätere Philosoph Enrique Dussel einmal als
       Zimmermann in Nazareth. Das war Ende der 1950er Jahre und für den späteren
       Professor für Theologie und Kirchengeschichte sicherlich eine Praxis von
       nicht geringer Symbolkraft.
       
       Dussel war einer der bedeutendsten Intellektuellen Lateinamerikas. In
       Argentinien geboren, lebte und lehrte er ab den 1970er Jahren in Mexiko.
       Mit seinen über dreißig Büchern beeinflusste er Debatten um linke Theorie
       und Praxis über Generationen hinweg. Er gehörte in den 1960er Jahren der
       [1][Befreiungstheologie] an und wurde in den letzten zwei Jahrzehnten zu
       einem der zentralen Stichwortgeber dekolonialistischer Theorie.
       
       Dass die Moderne nicht mit dem Westfälischen Frieden oder der Aufklärung,
       sondern schon 1492 begann, mit der Ankunft der Spanier in der Karibik,
       wurde er nicht müde zu betonen. Dementsprechend sah Dussel die moderne
       Subjektivität nicht nur als einen Sieg der Vernunft an, sondern auch als
       Effekt einer Geschichte der kolonialen Gewalt: Das „Ich denke, also bin
       ich“ von René Descartes sei nicht ohne ein „Ich erobere, also bin ich“ zu
       haben.
       
       ## Aussicht auf Befreiung der Ausgegrenzten
       
       Ausbeutung und Ausgrenzung der „Anderen“ standen im Zentrum seines
       politisch-theoretischen Interesses, mit dem er die Marx’sche Ökonomiekritik
       und die [2][Subjektphilosophie von Emmanuel Levinas] verknüpfte. Die
       Ausgegrenzten waren für ihn jedoch nicht nur Opfer: Zwar sind sie in eine
       Position der „Exteriorität“ gezwungen, wie Dussel vielfach ausführte. In
       dieser Stellung des Außerhalb lag für ihn aber stets auch ein Potenzial für
       Befreiung.
       
       Vor allem vor dem lateinamerikanischen Hintergrund ist die Hoffnung auf die
       Kraft der „Volkskultur“ zu verstehen, die Dussel bis zuletzt nicht aufgab
       und einem modernen Kapitalismus entgegenhielt. Nicht in antimodernen
       Reflexen aber bestand sein Konzept, sondern in der Überwindung
       ausbeuterischer und marginalisierender Verhältnisse, in der es zu einem
       gleichberechtigten Nebeneinander kommen sollte. Er nannte es
       „Transmoderne“.
       
       Auch wenn Dussel heute mehr als Kulturtheoretiker denn als Theologe
       wahrgenommen wird, der Glaubenshorizont blieb stets präsent: Die Entstehung
       sozialer Klassen, schrieb er einmal, sei nicht nur Ergebnis von
       Produktionsprozess und Arbeitsteilung, sondern schlicht „Frucht der Sünde“.
       
       Dussel starb am 5. November 88-jährig in Mexiko-Stadt.
       
       8 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Buch-und-Symposium-zu-Religion-in-Staedten/!5100065
   DIR [2] /Plaedoyer-fuer-die-Ukraine/!5845447
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Kastner
       
       ## TAGS
       
   DIR Nachruf
   DIR Philosophie
   DIR Befreiungstheologie
   DIR Kolonialismus
   DIR Lateinamerika
   DIR Marxismus
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Plädoyer für die Ukraine: Der Tod des Anderen
       
       Welchen Wert hat der Slogan „Nie wieder!“ – was ist damit gemeint? Und was
       heißt es, der Logik von Krieg und Vernichtung nachzugeben? Ein Zwischenruf.
       
   DIR Buch über Selbstverteidigung und Gewalt: Verteidigung als Angriff
       
       Keine Feier revolutionärer Gegengewalt: Die feministische Philosophin Elsa
       Dorlin hat die Genese der politischen Selbstverteidigung untersucht.
       
   DIR Buch und Symposium zu Religion in Städten: Wer sät, wird ernten
       
       Spiritualität, Selbstorganisation und Erlösung: Das Projekt "Urban Prayers"
       widmet sich religiösen Bewegungen in den Städten Afrikas, Asiens und
       Lateinamerikas.