URI: 
       # taz.de -- „Zeit wie im Fieber“ in Stuttgart: Hauptsache, der Teig ist rein
       
       > Wie viel Revolution braucht eine Gesellschaft? Am Schauspiel Stuttgart
       > zieht ein intelligenter Text von Björn SC Deigner Georg Büchner zurate.
       
   IMG Bild: Szene aus „Zeit wie im Fieber“
       
       Wenn uns [1][Georg Büchner] eines gelehrt hat, dann ist es das Zweifeln.
       Zuvörderst an allen Predigern der Wahrheit und obskuren Obrigkeiten.
       Mindestens genauso entschieden galt die Skepsis des 1837 im Alter von 23
       Jahren verstorbenen Ausnahmetalents allzu vollmundigen
       Erneuerungsversprechen.
       
       Während die Vormärzdichter mit wehenden Fahnen für die demokratische Utopie
       durch die Straßen zogen, reflektierte er in seinem Drama „Dantons Tod“ die
       fatalen Folgen der Französischen Revolution. Anschaulich zeigt er auf, wie
       der Kampf für die guten Ideale letztlich in einen neuen Totalitarismus
       umschlug. Statt dem Geschichtsoptimismus mancher seiner Zeitgenossen zu
       folgen, schwor er, der in seinen Pamphleten unermüdlich auch soziale
       Missstände anprangerte, letzthin auf die Ambivalenz.
       
       Auch die beiden Protagonistinnen in [2][Björn SC Deigners]
       „Büchner-Schrapnell“, das unter dem Titel „Zeit wie im Fieber“ am
       Stuttgarter Schauspiel uraufgeführt wurde, wollen sich nicht voreilig auf
       irgendeine Seite schlagen und fragen sich: Wie kann man heute für radikale
       Veränderungen eintreten, ohne populistischen Vereinfachungen zu
       unterliegen? Wie lassen sich die Menschen in der bräsigen Wohlstands- und
       Komfortzone zum Handeln bewegen?
       
       Um Antworten zu finden, begeben sich die dem Drama „Leonce und Lena“
       entsprungene Lena (Sylvana Krappatsch) sowie Julie (Paula Skorupa) aus
       „Dantons Tod“ auf eine imaginäre Reise. Sie treffen auf allerlei skurrile
       Typen mit jeweils geschlossener Weltsicht. Hinter Bäumchen am Bühnenrand
       lugt ein allzu wachsamer Kleinbürger hervor. „Ich seh jeden, der nicht in
       die Stroß gehört“, ruft der Globalisierungsgegner den beiden Frauen zu.
       
       Indessen verteidigt ein Bäckermeister mit überdimensionierter Brezel vor
       der Brust die Reinheit des Teigs, die für nichts anderes als das rechte
       Phantasma eines homogenen Volkskörpers steht. Und da ja zu viel Denken
       ohnehin nur für Knoten im Hirn sorge und uns vom ganzheitlichen Wesen des
       Kosmos entfremde, setzt eine esoterische Heilerin ganz auf die Kraft der
       Hufeisen.
       
       ## Ohne Absolutheitsanspruch
       
       Es raunt also gewaltig aus den Echokammern, zwischen denen Lena bekennt:
       „Wohin ich gucke, es ist alles falsch.“ Zugegeben, die Dialoge zwischen den
       beiden Protagonistinnen muten bisweilen etwas pastoral und verkopft an,
       gleichzeitig zeugt gerade ihr zähes Ringen vom Bewusstsein, dass wir es
       eben mit einer komplexen Wirklichkeit zu tun haben. Sie gilt es zu
       verbessern, nur eben ohne Absolutheitsansprüche.
       
       Zino Wey findet dafür in seiner Inszenierung stimmige Bilder. Mal reißen
       die Frauen ein überdimensioniertes Banner mit Versen Alfred Lichtensteins
       („Im Windbrand steht die Welt. Die Städte knistern“) herunter. Denn die
       bloße Diagnose einer kranken Zeit genügt wohl nicht. Mal begehren sie gegen
       den buchstäblichen Takt der phlegmatischen Mehrheitsgesellschaft auf.
       
       Hierbei kommt das wohl spannendste Requisit des Abends zum Einsatz, nämlich
       ein automatisch spielendes Klavier. Von Debussys „Clair de Lune“, über
       Beethovens „Mondscheinsonate“ bis hin zur Nationalhymne reichen dessen
       Variationen. Sie stehen für einen festen kulturellen Gemeinschaftsrhythmus.
       Ihn zu durchbrechen bedarf es vor allem schiefer Töne, weswegen sich Lena
       und Julie immer wieder auf die Klaviatur stemmen. Doch vergebens. Die
       Melodien laufen weiter, wie gewohnt und vom braven Staatsbürger geschätzt.
       
       Philosophisch ambitioniert und unterhaltsam überspitzt in den
       Figurenzeichnungen, regt diese Inszenierung zum Innehalten an. Sie
       katapultiert uns heraus aus dem schnelllebigen Rausch der Posts und hastig
       zusammengezimmerter Meinungen. Sie wirbt für die Suche nach dem Guten, ohne
       auf Differenziertheit zu verzichten – ein Spagat, der dem intellektuellen
       Diskurs abseits der Freund-Feind-Logik Raum gibt. Was würde wohl Büchner
       dazu sagen? Ganz gewiss: Mehr davon!
       
       13 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Woyzeck-Inszenierungen-im-Norden/!5966187
   DIR [2] /Theaterstueck-Mission-Mars-in-Oldenburg/!5652529
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Björn Hayer
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Stuttgart
   DIR Georg Büchner
   DIR Theater
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Theater
   DIR Theater
   DIR Theater
   DIR Theater
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Dystopisches Theater in Frankfurt: Der Hang, der zu rutschen droht
       
       Zum Spielzeitauftakt hat das Schauspiel Frankfurt zwei Stücke in Auftrag
       gegeben. Es geht um Dystopien der Gegenwart – ewiges Leben und
       Zeitenwenden.
       
   DIR „Leonce und Lena“ am Theater Osnabrück: Die stumme Frau ergreift das Wort
       
       Die Osnabrücker Inszenierung von Büchners Lustspiel vertauscht die Texte
       der beiden Hauptfiguren. Das eröffnet den Spielraum für eine grandiose
       Lena.
       
   DIR Theaterstück „1984“ am Berliner Ensemble: Dystopie als Singspiel
       
       Regisseur Luk Perceval adaptiert George Orwells Klassiker „1984“. Am
       Berliner Ensemble kreiert er eine auf Raum und Klang setzende
       Bühnenversion.
       
   DIR „Woyzeck“-Inszenierungen im Norden: Das Stück der Stunde
       
       Auf etlichen Bühnen kommt derzeit Georg Büchners „Woyzeck“ zur Premiere.
       Was erzählt diese heikle Hauptfigur über unsere offenbar unsicheren Zeiten?
       
   DIR Anne Webers Roman als Theaterstück: Lautstärke und Klamauk
       
       „Annette, ein Heldinnenepos“ wird zum Theaterstück. Dušan David Pařízek
       inszeniert Anne Webers Roman über Widerstand in Stuttgart.
       
   DIR Theaterstück über geflüchtete Kinder: Mimits Kampf mit den Monstern
       
       Nikolaus Habjan inszeniert „Fly Ganymed“ in Stuttgart. Puppen übernehmen
       ästhetisch überzeugend die Rollen von minderjährigen Geflüchteten.