URI: 
       # taz.de -- Altern und Altsein: An der Zitronentafel des Lebens
       
       > In „Die Reisende der Nacht“ klagt Laure Adler die gesellschaftliche
       > Missachtung der Ältesten an. In Frankreich ein Thema, das gerade entdeckt
       > wird.
       
   IMG Bild: Oft alleine gelassen. Menschen im Alter
       
       Jederzeit, warnt die Autorin, kann es so weit sein. Es kann „eines schönen
       Tages beim Aufwachen passieren, oder wenn eine unerklärliche Müdigkeit Sie
       überkommt oder wenn Sie an einer Straßenbiegung versehentlich in einer
       Schaufensterscheibe Ihre eigene Silhouette erkennen, die gebeugter ist, als
       Sie glaubten“.
       
       Dann ist man alt – und damit Bewohnerin eines Landes, das zwar immer größer
       wird (schon jetzt sind über 15 Millionen Menschen in Frankreich über
       sechzig Jahre alt), dessen Bevölkerung aber in den meisten, und nicht nur
       den westlichen Gesellschaften missachtet und sozial abgesondert wird.
       
       Die französische Feministin [1][Laure Adler] führt gedanklich [2][Simone de
       Beauvoirs] Ende der 1960er erschienenes Werk „Das Alter“ fort – und stellt
       fest, dass sich die Befunde vom Altern als „geheimer Schande“, mit einer
       umfassenden gesellschaftlichen Geringschätzung der Alten und zunehmender
       finanzieller Ungleichheit, noch verschlimmert haben.
       
       ## Katastrophales Leben
       
       Altern, so stellt Adler fest, bedeute heutzutage für die meisten, die sich
       keine teure Pflege erkaufen können, „Pech und Herabsetzung, und für die
       Schwächsten ein katastrophales Leben“. Frauen treffe es am härtesten, sie
       seien nicht nur öfter arm, sondern vom Verdikt des
       Hässlich-und-nutzlos-Seins auch noch stärker betroffen als Männer.
       
       Adlers Essayband „Die Reisende der Nacht“ ist eine intellektuelle Erkundung
       der Erfahrung des Alterns und des Altseins. Zugleich ist das Buch auch eine
       politische Anklage und eine kämpferische Einladung, sich gegen die
       systematische „Dehumanisierung von Altersstufen“ und das allumfassende
       Diktat der Jugend aufzulehnen.
       
       Die Autorin beschreibt die desolate Lage der Bewohner:innen in den
       staatlichen Altenheimen Frankreichs, die (Zufall?, fragt sie) zunehmend am
       Stadtrand gebaut werden, wie die Friedhöfe. Das Altern ist für Adler
       politisch und der Umgang mit den Ältesten die Blaupause dafür, wie sehr
       sich eine Gesellschaft den Menschenrechten und der Humanität verpflichtet
       fühlt.
       
       ## Sparmaßnahmen in Pflegeheimen
       
       Sie skandalisiert die Sparmaßnahmen des französischen Staats in den
       Pflegeheimen, die Arroganz gegenüber Pflegebedürftigen und Angehörigen in
       einer bevormundenden Verwaltungsmühle und fragt: „Haben wir ab einem
       gewissen Alter nicht mehr dieselben Rechte?“
       
       Das Material, auf das sich Adler stützt, sind sparsam eingesetzte
       demografische Daten und Zahlen. Vor allem aber verwebt sie literarische und
       philosophische Positionen zum Thema mit Begegnungen. Darunter sind betagte
       Prominente wie die Schriftstellerin Annie Ernaux, eine Freundin der
       Autorin, oder die 79-jährige senegalesische Tänzerin Germaine Acogny, die
       sagt: „Bei uns tanzen die Alten bis zum Schluss.“
       
       Dazu kommen ganz persönliche Anekdoten der Autorin, wie die von ihrer
       achtjährigen Tochter, die sie bittet, sie nicht mehr bis ins Schulgebäude
       zu begleiteten, da sie zu alt aussehe – um wenige Tage später
       festzustellen, dass andere, objektiv jüngere Mütter doch wesentlich älter
       wirkten. „Das war mein Freudentag“, kommentiert Adler, die offen ihr
       eigenes Ringen mit dem Älterwerden beschreibt: Der Abschied von der,
       spezifisch französischen, mit Begehren imprägnierten Weiblichkeit.
       
       Aber auch die Überraschung, etwas gewonnen zu haben: eine Leichtigkeit, die
       Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen und von der ewigen Frage, was
       man mit seinem Leben machen will.
       
       ## Über den Tod sprechen
       
       Bei der Lektüre erfährt man viel Neues. Auch Kurioses, wie vom
       Pornodarsteller Shigeo Tokuda, der sich mit 85 Jahren beim Slow Sex filmen
       lässt – in Japan, dem Land mit der ältesten Bevölkerung der Welt, ein
       einträglicher Markt. Oder von den „Zitronentafeln“ im Paris des 19.
       Jahrhunderts, benannt nach dem chinesischen Symbol für den Tod, bei denen
       intellektuelle Männer (und als einzige weibliche Ausnahme George Sand)
       dinierten und dabei über den Tod sprachen.
       
       Adler lenkt den Blick immer wieder auch auf die schöpferischen Seiten des
       Alters und betrachtet die Kraft letzter Werke von Tizian über Beethoven bis
       zu Louise Bourgeois’ letzten Skulpturen. Aus dem Spätwerk des romantischen
       Schriftstellers François-René Chateaubriand, „Das Leben des Abbé Rancé“
       schließlich hat die Autorin den Titel ihres so analytischen wie poetischen
       Buchs entlehnt: „Das Alter ist eine Reise durch die Nacht: Die Erde bleibt
       ihr verborgen, sie entdeckt nur noch den Himmel.“
       
       22 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Charlotte-Perriand-visionaere-Architektin/!5691519
   DIR [2] /Neues-Buch-von-Manon-Garcia/!5964066
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nina Apin
       
       ## TAGS
       
   DIR Simone de Beauvoir
   DIR Alten- und Pflegeheime
   DIR Diskriminierung
   DIR Altersarmut
   DIR wochentaz
   DIR Politisches Buch
   DIR Gesellschaftskritik
   DIR Altern
   DIR Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
   DIR Altern
   DIR Gerichtsprozess
   DIR Spielfilm
   DIR Literatur
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Leben einer französischen Arbeiterin: Nach der Fischfabrik
       
       In „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ widmet sich Didier Eribon
       einem schmerzhaften Teil seiner Herkunft: der Beziehung zu seiner Mutter.
       
   DIR Älter werden: Sixty, something
       
       Wenn man sechzig wird, scheinen einem die Welt und die Zeit zu entgleiten.
       Unser Autor fragt sich: Wie geht gutes Altern heute?
       
   DIR Nach Terroranschlag auf Lehrer: Prozess im Fall Samuel Paty beginnt
       
       In Frankreich müssen sich sechs Minderjährige im Zusammenhang mit dem
       islamistischen Attentat verantworten. Ihnen drohen bis zu zweieinhalb Jahre
       Haft.
       
   DIR Tragikomödie „The Ordinaries“ im Kino: Schöne neue Filmwelt
       
       Im Debütfilm von Sophie Linnenbaum stehen Hauptfiguren oben, Outtakes unten
       in der Rangordnung. Es ist eine Parabel auf soziale Ungleichheit.
       
   DIR Roman „Young Mungo“ von Douglas Stuart: Zerstörung von Schönheit
       
       Douglas Stuart erzählt in „Young Mungo“ von den Proletariermilieus
       Schottlands. Der Roman ist trotz aller Drastik zum Glück kein Trauma-Porn.
       
   DIR Misogynie und Rassismus: Lasst euch nicht besänftigen
       
       Die US-Autorin und Aktivistin Soraya Chemaly zeigt die Wut als befreiende
       Kraft. Auch wie Rassismus und Antifeminismus zusammenhängen.