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       # taz.de -- Regisseur Meirhaeghe an der Volksbühne: Dem Schönen misstrauen
       
       > Zwischen Menschheitsgeschichte und Kaninchenscheiße: der belgische
       > Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe inszeniert an der Berliner Volksbühne.
       
   IMG Bild: Benjamin Abel Meirhaeghes bevorzugtes Mittel ist die Ironie
       
       Man stelle sich einen Schauspieler auf dem Höhepunkt seiner Karriere vor.
       In einem der renommiertesten Theater Europas hat er die riesige Bühne eine
       Szene lang ganz für sich allein. Er spielt niemand Geringeren als Gott. Aus
       einem Eimer kippt er erst etwas Erde auf die Bühne, sprenkelt dann noch ein
       wenig Wasser dazu, woraufhin eine Band im Orchestergraben zu „The Final
       Countdown“ ansetzt und Gottvater sich bei den ersten Bläserstößen aus der
       Pfütze seiner gerade vollbrachten Schöpfung erhebt! Und dann?
       
       Nun, dann streift sich [1][Benny Claessens] seine Kleider vom Leib, hüpft
       ein bisschen unmotiviert über die Bühne, läuft im Kreis, schlackert mit den
       Armen, und als die dramatische Musik verebbt, zieht er bockig von dannen:
       „Pferdchen ist müde.“
       
       Wie unbeeindruckt, wie lässig Claessens hier einen großen Moment
       herschenkt! Es ränge einem beinahe Respekt ab, wenn das Ergebnis nur nicht
       so läppisch wäre. Wer hier von Enttäuschung spricht, begeht jedoch einen
       Kategorienfehler, unterläuft der Belgier doch seit Langem schon jede
       Erwartung an Ernsthaftigkeit.
       
       Die Ironie ist sein liebstes Instrument, mitunter argwöhnt man: vielleicht
       sein einziges. Damit passt er vortrefflich in diese Inszenierung, die das
       Heilige und Größte anruft, um es sogleich auf die Maße des Profanen und
       Mickrigen zusammenzustutzen.
       
       ## Trostlose Existenz
       
       Einen Text, den [2][Susanne Bredehöft] vorträgt, darf man als Poetologie
       des Abends [3][„Death Drive – Everything everyone ever did“] verstehen. Sie
       erzählt von einem Mann, der unbedingt wissen wollte, was sich am Ende der
       Straße befand. Niemand sonst verstand seinen Wunsch, er aber wollte dieses
       letzte Rätsel lösen. Also ging er den ganzen Weg, erreichte nach vielen
       Jahren das Ende der Straße – und fand an seinem Ende nichts als einen
       Haufen Kaninchenscheiße. „Nicht einmal das Kaninchen war mehr da.“
       
       Dieses Gleichnis auf die trostlose Existenz entspricht dem ästhetischen
       Atheismus des belgischen Regisseurs Benjamin Abel Meirhaeghe, der in seiner
       ersten Produktion an der Berliner Volksbühne wunderschöne Bilder zu
       arrangieren vermag, jedoch weitaus mehr Freude daran zu haben scheint, die
       Nutzlosigkeit dieses Talents vorzuführen.
       
       Anfangs laufen zwei nackte Tänzer aufeinander zu, küssen sich, lecken
       einander am Anus, imitieren in einer ebenso derben wie eleganten
       Choreografie einen Geschlechtsakt, der nicht weniger als die Menschheit
       hervorbringen wird. Denn kurz darauf ziehen sie ein riesiges Ei auf die
       Bühne, aus dem das Ensemble hervorkriecht, um sich die Erde untertan zu
       machen.
       
       Von hier an geht es gut eineinhalb Stunden lang weitgehend wortlos durch
       die Menschheitsgeschichte. Man baut sich primitive Behausungen, guckt
       konzentriert auf Blumensträuße, imitiert Tiere und Tänze. Riesige
       Stoffbahnen senken sich immer wieder auf die Bühne, in ihrer Mitte eine
       leere Fläche, die womöglich Konzentration zu bündeln versucht. Nur worauf?
       
       ## Schon alles gesagt
       
       Die besseren Momente lassen erahnen, dass die Regie eine Antwort auf diese
       Frage kennt, sie aber nicht ohne weiteres offenbaren möchte. In den
       schlechteren fürchtet man, dass mit dem Hinweis auf die Kaninchenscheiße
       schon alles gesagt sein könnte.
       
       Zu Letzteren gehört eine Szene, in der das Ensemble sich an einem Tisch
       versammelt, um mit Eimern, Schlagwerk und allerlei sonstigem Zeug unter
       Anleitung Claessens’ eine Klang-, vor allem aber Lärmimprovisation zu
       exekutieren. An dessen Ende füllen sie sich die Münder mit Wasser und
       schlagen einander Tortilla Wraps gegen die prallen Wangen.
       
       Als wäre der Albernheit nicht schon Genüge getan, ordnet Kathrin Angerer
       als Nonne verkleidet Steine und kleine Hölzer unter einer Kamera an,
       murmelt, dass sie alles gesehen, nun aber keinerlei Interesse mehr an
       irgendetwas habe, woraufhin sie ihre Séance konsequenterweise abbricht, die
       Schale mit den Steinen wegstellt und stattdessen eine Pizza auftischt, an
       der sich das Ensemble dann auch zufrieden gütlich tut.
       
       Große Worte wie Gott, Sinn, Erkenntnis und auch Kunst werden an diesem
       Abend eifrig durchgestrichen und von der Bühne abgeräumt. Entschlossen
       könnte das wirken, erzählen könnte es etwas, wenn diese Geste noch etwas
       Rebellisches aufwiese, wenn sie dem Zeitgeist nur ein wenig widerspräche.
       Was aber will man dieser Tage mit einem Theaterabend anfangen, der stolz
       vor sich herträgt, dem Schönen zu misstrauen?
       
       Man kann ihn bestenfalls vor den eigenen Augen vorüberziehen lassen, sich
       an ein paar großen Bildern erfreuen, die Musik der Brassband Beat ’n Blow
       genießen und später dann beim Pizza essen über etwas anderes sprechen.
       
       26 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [3] https://www.volksbuehne.berlin/#/de/repertoire/death-drive-everything-everyone-ever-did
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Wolf
       
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