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       # taz.de -- Russland verbietet LGBT-Bewegung: Homosexualität ist jetzt illegal
       
       > Russland erklärt die „internationale LGBT-Bewegung“ für extremistisch.
       > Dass es diese gar nicht gibt, interessiert die russische Justiz nicht.
       
   IMG Bild: Ab sofort Grund für Jobverlust oder Haftstrafe in Russland: Schwenken einer Regenbogenflagge
       
       Moskau taz | Es wirkt wie aus einem surrealen Theaterstück. Es treten auf:
       Beamte aus dem Justizministerium in Masken und ein Richter des obersten
       Gerichtshofes. Die Anklagebank bleibt leer, die Türen zu. Verhandelt wird
       etwas, das es gar nicht gibt.
       
       Niemand kann erklären, was einer nicht existierenden Bewegung vorgeworfen
       wird und wie das Urteil praktisch umgesetzt werden soll. Das
       Justizministerium selbst hatte vor knapp zwei Wochen die Klage eingereicht.
       
       Eine „internationale LGBT-Bewegung“, von der bis dahin noch niemand in
       Russland oder anderswo auf der Welt etwas gehört hatte, weise „verschiedene
       Erscheinungsformen einer extremistischen Ausrichtung“ auf, hatte es im
       Schreiben geheißen. Die „Bewegung“ stachele zu religiösem und sozialem Hass
       auf. Konkreter wurde die Anklage nicht.
       
       Und so unklar blieb es auch am Tag des Urteils selbst. Mit einem
       Schuldspruch, der praktisch alle in Russland kriminalisiert, die nicht nach
       „traditionellen Werten“ leben, wie sie sich das russische Regime vorstellt.
       Alle, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen und bislang
       eingesetzt hatten, sind damit potenzielle „Extremisten“, denen ab jetzt
       jahrelange Haftstrafen drohen könnten.
       
       ## Homosexuelle sind jetzt per se illegal
       
       Es ist kein Dada-Stück, das an diesem Donnerstag mehr als fünf Stunden lang
       im Zentrum Moskaus aufgeführt wird. Es ist die Demonstration dessen, wie
       Russland die bloße Existenz einer ganzen Gruppe von Menschen für
       gesetzeswidrig erklärt. Was das neue Urteil für jeden Einzelnen bedeutet,
       lässt sich nicht sagen, es verändert aber die Atmosphäre im Land.
       Beratungsstellen werden wohl in den Untergrund gehen, manche Menschen
       dürften aufgrund ihrer „nicht traditionellen sexuellen Orientierung“, wie
       es im Russischen heißt, ihre Arbeit verlieren, andere auch ihre Freiheit.
       Die tägliche Erniedrigung von queeren Personen ist nun Gesetz im Land.
       
       „Ich habe Angst. Angst, mein Kind in die Schule zu schicken, Angst, auf der
       Straße überfallen zu werden, Angst, einen Handwerker ins Haus zu lassen,
       der vielleicht melden würde, das wir als Familie aus zwei Frauen und einem
       Kind zusammenleben. Niemand wird sich für uns einsetzen“, [1][zitiert das
       russische Exilmedium Meduza ] eine Frau anonym.
       
       ## Höhepunkt der Repressionen sexueller Minderheiten
       
       Das Urteil ist der vorläufige Höhepunkt der Repressionen sexueller
       Minderheiten in Russland. Das erste Gesetz gegen die sogenannte
       Homosexuellen-Propaganda gegenüber Minderjährigen hatte die russische
       Region Rjasan bereits 2006 angenommen. Angewendet wurde es kaum, allerdings
       gerne als Vorwand genutzt, Demonstrationen für die Rechte sexueller
       Minderheiten zu verbieten. Es folgten entsprechende Gesetze in weiteren
       Regionen – [2][und 2013 landesweit].
       
       Die „Verbreitung von Informationen, die traditionelle und
       nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen gleichsetzen“ und „die
       Attraktivität nicht traditioneller sexueller Beziehungen zeigen“, wurden so
       als Ordnungswidrigkeit mit Geldstrafen geahndet. Damit normalisierte der
       Staat Gewalt gegen sexuelle Minderheiten. Beratungsstellen markieren nun
       ihre Infobroschüren mit dem Zusatz „18+“, LGBT-Filmfestivals werden
       regelmäßig von Polizei oder offen homophoben Gruppen gestört.
       
       2022 folgte der nächste Schlag. Nun richtete sich das Gesetz nicht nur
       gegen die „Propaganda gegenüber Minderjährigen“, sondern auch [3][allen
       anderen Menschen gegenüber]. Die Höhe der Strafe für das Propagieren „nicht
       traditioneller Beziehungen oder Geschlechtsumwandlungen“ lag bei
       umgerechnet bis zu knapp 85.000 Euro. Filme wurden dementsprechend
       verändert, Beratungsstellen die Arbeit erschwert.
       
       ## Verbot von Geschlechtsangleichungen
       
       Vor vier Monaten [4][verbot die Staatsduma schließlich medizinische
       Eingriffe sowie Medikamente zur Geschlechtsangleichung]. Die Duma verbietet
       Transpersonen auch Adoptionen von und Pflegschaften für Kinder. Das Regime
       verfolgt also Menschen allein dafür, wer sie sind.
       
       Russlands Präsident Wladimir Putin macht sich über „Transformatoren“, wie
       er queere Personen verächtlich nennt, öffentlich lustig. Manche
       Aktivist*innen fragen sich, ob mit dem Urteil durch die Hintertür der
       sowjetische Artikel 121 zurückkehre. Dieser bedrohte Männer noch bis 1993
       für homosexuelle Handlungen mit bis zu acht Jahre Haft oder der Einweisung
       in die Psychiatrie.
       
       Weil sie die Klage für absurd hielten, hatten sich einige
       LGBT-Aktivist*innen vor wenigen Tagen tatsächlich als „internationale
       LGBT-Bewegung“ in Russland registrieren lassen. Aber selbst deren Anwalt
       wurde zum Gericht nicht zugelassen. Der Staat braucht also nicht einmal
       mehr Angeklagte, um seine grotesken Entscheidungen zu treffen.
       
       30 Nov 2023
       
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