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       # taz.de -- Magdeburger Schauspieldirektorin: Schwein in Sonderrolle
       
       > Roboter, Molche und Schweine: In den Inszenierungen von Clara Weyde
       > wandeln fantastische Figuren mitten unter Menschen. Ein Porträt.
       
   IMG Bild: Auftritt des Hofstaats in „Das Leben ein Traum“ von Clara Weyde
       
       Ein Automat auf dem Thron? Der Hofstaat ist entsetzt. Wenn schon ein
       Automat, könnte der dann nicht besser „Wischen Waschen Wäschemachen“? Aber
       der alte König Basilio hat es so verfügt, dass anstatt des Sohnes, den er
       nicht hat, ein im Geheimen mit dem ganzen Wissen der Welt gefütterter
       Automat seine Nachfolge antritt.
       
       Zumindest geschieht das so in der Bearbeitung des [1][barocken Dramas „Das
       Leben ein Traum“ nach Pedro Calderón de la Barca], die das Theater
       Magdeburg zeigt. König Sigismund ist in dieser Fassung der Regisseurin
       Clara Weyde und des Dramaturgen Bastian Lomsché eine künstliche
       Intelligenz. Er trifft seine Entscheidungen nach dem Sachstand berechnet,
       doch ohne Emotionen oder Empathie. Das geht in der Inszenierung schnell wie
       ein Fingerschnippen.
       
       „Unmut macht sich weiter breit, wegen knapper Nahrungsmittel“, trägt seine
       rechte Hand ein Problem vor, und mit Bewegungen, die schnelles Rechnen
       imaginieren, antwortet der König: „Nahrungsmittelknappheitsunmut –
       Mischkulturbepflanzungsplan, Weizeneinkaufspflichtverordnung.“ Wenig später
       folgt: „Volksvergreisungsprävention. Fortpflanzungsverpflichtungsklausel.
       Greise sind ins Meer zu werfen.“
       
       So verhandelt die Inszenierung die Sorgen, Ängste und die Hoffnungen, die
       sich an die Entwicklung von künstlicher Intelligenz knüpfen. Die steht
       dabei nicht nur für eine gegenwärtige Entwicklung, sondern beispielhaft für
       die Diskussion über das, was an Veränderung möglich ist. Aber diese
       Metaebene ist nur ein Teil des Theater-Spiels, das zugleich witzig und
       formal sehr stilisiert ist.
       
       ## Der Hofstaat und seine Rituale
       
       Der Hofstaat hat seine Rituale, aufgeführt in steifen Kostümen und mit
       hüpfenden und raffiniert gestolperten Schritten. Der Nutzen der Regeln und
       Rituale am Hof ist übrigens das Erste, was Sigismund nicht einleuchtet. Für
       ästhetischen Überschuss hat er keine Deutung.
       
       Der Blick auf Systeme, die Frage nach Zukunft und den Möglichkeiten der
       Erneuerung: Das ist etwas, was die Regisseurin Clara Weyde umtreibt. Dabei
       tauchen in ihren Inszenierungen nicht selten Figuren auf, die den Menschen
       nachahmen und spiegeln und damit einen distanzierten Blick auf seine Fehler
       ermöglichen.
       
       In Berlin inszenierte sie im Sommer 2022 an [2][der Schaubühne „Der Krieg
       mit den Molchen“] nach einem Roman aus den 1930er Jahren von Karel Čapek:
       In dieser futuristischen Satire machen sich die Menschen die Molche
       zunächst zu Sklaven. Doch dann lernen die Molche schnell von den Menschen,
       wie Ausbeutung geht, und kehren die Verhältnisse um. Auch diese
       Inszenierung war so witzig wie unheimlich. Die Molche, zur Landgewinnung
       angestellt, lernen, wie Überschwemmungen gehen. Dass die Menschheit am Ende
       in den Fluten untergeht, ist aus ihrer Perspektive nicht schade.
       
       ## Umzug von der Elbe an die Elbe
       
       Die Frage nach der Zukunft begleite sie jeden Tag, sagt Clara Weyde, 1984
       geboren, im Gespräch. Sie hat eine Tochter von dreieinhalb Jahren, die in
       Magdeburg in die Kita geht. Seit der Spielzeit, die im September 2022
       begann, gehört Clara Weyde mit dem Dramaturgen Bastian Lomsché und dem
       Kostümbildner Clemens Leander zu einem Dreierteam, das die
       Schauspieldirektion in Magdeburg bildet.
       
       Dafür zog sie von Hamburg in die viel kleinere Stadt an der Elbe. Das war
       eine große „Lebensentscheidung“ sagt sie, denn diese Position nimmt sie
       voll in Anspruch, mehr als die Regiearbeit allein.
       
       Ihre Inszenierungen enden meistens pessimistisch. Das, überlegt sie, liege
       auch daran, dass ihr als privater Person eine bessere Zukunftsperspektive
       fehle – aber genau deshalb beschäftigt sie sich sicher in ihrer Arbeit mit
       der Suche danach. Dabei ist sie in erster Linie nicht am Einzelschicksal
       interessiert, sondern vielmehr an der „Untersuchung struktureller
       Systematiken“.
       
       ## Ungewohnter Blickwinkel durchs Stolpern
       
       Der Humor, der oft schon in den Texten angelegt ist und den sie mit einer
       Komik der Körper verstärkt, ist nicht nur notwendig, um zu unterhalten –
       durchaus ein Anliegen ihres Theaters –, sondern auch, um zum Mitdenken zu
       verführen. Und weil sich im Moment des Stolperns, wo die Bewegungen nicht
       glatt laufen, manchmal auch etwas öffnet, ein ungewohnter Blick auf die
       Dinge.
       
       Wenn man in Magdeburg am Bahnhof ankommt, ist es doch etwas überraschend,
       dass die Hinweisschilder zu den drei Ausgängen zum „Kölner Platz“, zum
       „Konrad-Adenauer-Platz“ und zum „Willy-Brandt-Platz“ weisen. So viel West
       im Zentrum Ost, das auf den nächsten Schritten mit gesichtslosen riesigen
       Shoppingmalls abschreckt. Bis man dahinter die vielen Kirchen und das
       schöne Elbufer entdeckt.
       
       Identität Ost, Identität West: Das ist noch immer ein konfliktreicher
       Boden. Clara Weyde denkt, auch als Teil der Schauspieldirektion, dass das
       Theater Stoffe bieten soll, die etwas mit dem Leben des Publikums und der
       Gesellschaft in der Stadt zu tun haben, aber weder belehrend sein sollen,
       noch und schon gar nicht darauf eingeengt, sie als ostdeutsche Stadt zu
       spiegeln.
       
       ## Lückenhafte Zukunftskonzepte
       
       Wenn sie in ihrer Arbeit mit dem Mangel daran umgeht, was fehlt in den
       Konzepten von Zukunft, was blockiert Veränderung, dann geht das die Leute
       hier so gut wie anderswo an.
       
       In dieser Spielzeit hatten zwei Stücke von ihr Premiere in Magdeburg.
       „Wolf“ nach einem Roman von [3][Saša Stanišić] spielt unter Jugendlichen in
       einem Ferienlager. Ein Junge wird gemobbt. Die Hauptfigur und Erzähler der
       Geschichte aber ist Kemi, unfreiwillig dort, ohne Lust auf die gespielte
       Begeisterung seiner Kumpels. Er ist zunächst nur Beobachter der Geschichte,
       wie Marko Jörg quält.
       
       Dann aber merkt er immer mehr, wie gerade die Zuschauenden Markos Macht
       stärken. Zu diesem poetisch und leise inszenierten, aber auch in seinen
       pädagogischen Botschaften deutlichen Stück kommen auch viele Schulklassen.
       
       Herausfordernder und weniger leicht einzuordnen ist dagegen der „Tod eines
       talentierten Schweins“, ein Monolog nach einem Roman des tschechischen
       Autors Roman Sikora, surreal und fantastisch, vor allem aber verstörend mit
       seiner ungewöhnlichen Geschichte. Marie-Joelle Blazejewski spielt und singt
       das stimmlich sehr begabte Schwein; der Musiker Thomas Leboeg begleitet sie
       am Klavier und markiert am Ende den Schlachter. Ein paar gestapelte Stühle
       und ein Vorhang aus Plastikstreifen reichen als Bühnenbild.
       
       ## Das gesangsbegabte Schwein
       
       Es ist das Schwein selbst, das seine Biografie erzählt: wie es mit seinem
       Sangestalent auffällt, eine Sonderrolle im Schlachthof erhält, vom Chef
       begnadigt wird, das Sterben der Artgenossen ab diesem Moment mit
       gefühlvollen und trostreichen Liedern begleitet. Aber nicht nur das: Auch
       die Arbeit der Schlachter macht es mit seiner Musikbegleitung leichter.
       
       Marie-Joelle Blazejewski singt sehr schön schmachtvolle Popklassiker. Man
       fühlt den Stolz des Schweins auf seine Sonderrolle, sein Bemühen um
       Anerkennung, sein überspieltes Leiden an mangelnder Zugehörigkeit, seine
       Anpassungsleistung an das, was den Menschen gefällt, um zu überleben.
       
       Langsam stellt sich beim Zuschauen die Beklemmung ein und wächst stetig. Um
       Massentierhaltung geht es nur vordergründig. Die Geschichte ist eine
       Parabel, eine große Arie auf die Leistung der Verdrängung, eine Erzählung
       von einer Selbsttäuschung, die dem Überleben dient. Des Schweins Simulation
       des Menschlichen ermöglicht dem Menschen, dieses Schwein noch viel perfider
       auszunutzen, wenn auch anders, als die anderen Tiere.
       
       Durch unser Vorwissen stellen sich verschiedene Assoziationen ein, auch
       historische, auch zum Leben in Konzentrationslagern. Die Inszenierung fällt
       dabei kein Urteil über die Figur des Schweins, das versucht, so nahe dem
       Tod etwas Glück zu suchen, einen Traum zu leben, mit der Poesie, der Musik.
       Und doch damit dazu beiträgt, den Schlachthof am Laufen zu halten.
       
       27 Nov 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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