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       # taz.de -- Nach dem Krieg im Nahen Osten: Die Hassdynamiken umkehren
       
       > Das Konzept Konfliktmanagement ist zusammengebrochen. Wie kann ein Ausweg
       > aus der Katastrophe im Nahen Osten aussehen? Eine philosophische
       > Annäherung.
       
   IMG Bild: Was treibt diesen Krieg an? Was könnte dem entgegenwirken?
       
       Im gegenwärtigen Krieg zwischen Israel und der Hamas ist kaum etwas
       unumstritten. Doch nur wenige würden diese Beobachtung leugnen: Die
       Vorstellung, dass der Konflikt jemals bewältigt werden könne, hat einen
       schweren Rückschlag erlitten. Seit [1][dem Scheitern des Osloer
       Friedensprozesses] und nach dem Ende der zweiten Intifada haben sich viele
       Israelis einem falschen, giftigen Optimismus verschrieben, auch „nüchterner
       Realismus“ genannt: Der Konflikt kann demnach nicht gelöst, aber er kann
       gemanagt und eingedämmt werden, was den Israelis genügend Sicherheit
       bietet, um sich anderen gesellschaftlichen Problemen zu widmen.
       
       Das jüngste dieser Probleme ist die von Netanjahus rechtsextremer Regierung
       vorangetriebene sogenannte Justizreform, die Massenproteste und
       beispiellosen Widerstand in der israelischen Bevölkerung auslöste. Dies war
       eine dramatische Phase, die die Gesellschaft spaltete – aber sie beruhte
       auch auf einem kollektiven „Vergessen“ des israelisch-palästinensischen
       Konflikts.
       
       Kann der zerstörte Status quo zu einem friedlichen „Danach“ führen? Mit dem
       Zusammenbruch des Paradigmas von conflict management gibt es nur noch zwei
       logische Möglichkeiten: entweder ein zunehmend zerstörerischer Krieg, der
       auf einem „Entweder wir oder sie“ beruht, oder eine tragfähige friedliche
       Lösung des Konflikts. Die Gefahr liegt jedoch darin, diese Alternativen als
       gleichwertig zu betrachten.
       
       Obwohl sehr viel auf dem Spiel steht, zeigt sich die erste Option derzeit
       erschreckenderweise als nahezu unvermeidlich, während die zweite noch nie
       so schwer vorstellbar war. Es ist aber so: Die Unmöglichkeit, sich derzeit
       eine friedliche Lösung realistischerweise vorzustellen, sollte gerade als
       dringendes Zeichen verstanden werden, einen solchen Weg nach vorn zu ebnen.
       Israel ist seit Jahrzehnten ein Labor für moderne Kriegsführung und
       nationale Sicherheit. Israel und Palästina müssen zu einem Labor für
       innovative Politik und Diplomatie werden, um weitere Katastrophen zu
       vermeiden.
       
       Ein solches Experiment könnte beginnen, indem eine [2][einfache Heuristik]
       befolgt wird: So zu handeln, dass man von dem derzeit eingeschlagenen
       destruktiven Weg abweicht. Vielleicht eröffnet die Umkehrung der
       Mechanismen und Dynamiken, die diesen Konflikt auf einen katastrophalen
       Pfad gebracht haben, eine Chance, ihn umzulenken. Die Katastrophe liegt auf
       der Hand: ein Krieg ohne Ende. Was treibt diesen Krieg an? Was könnte dem
       entgegenwirken? Bei der Beantwortung dieser Fragen sollten wir unsere
       jeweiligen Rollen ehrlich bewerten: Tragen meine Ideen und Handlungen zur
       Deeskalation bei? Wenn nicht, könnten sie durchaus mitschuldig sein.
       
       In dieser Hinsicht sind alternative Ideen wie eine
       israelisch-palästinensische Föderation, eine Regierung unter
       internationaler Kontrolle für Ostjerusalem und sogar eine Nahost-Union
       nicht unrealistischer als die alte Zweistaatenlösung und ihr extremes
       Gegenstück, der eine Staat. Wenn sich Israelis und Palästinenser endlich
       als Schicksalsgefährten anerkennen und sich bemühen, Partner zu sein,
       könnten realistischere Wege beschritten werden als eine harte räumliche
       Trennung oder die utopische Vorstellung einer politischen Einheit.
       
       Aber ist die israelische Linke überhaupt in der Position, eine Alternative
       anzubieten, nachdem der Glaube an das hehre conflict management erst einmal
       beerdigt ist? Es kann kaum mehr auf dem Spiel stehen, denn es muss einer
       immer offeneren genozidalen Denkweise entgegengetreten werden. Nun hat die
       israelische Linke einen schweren Schlag erlitten und braucht jede Hilfe, um
       wieder auf die Beine zu kommen.
       
       Viele der Opfer [3][des Massakers vom 7. Oktober] waren nicht nur
       Mitglieder von Kibbuzim – die zum Kern der traditionellen israelischen
       Linken gehören –, einige von ihnen waren auch Mitglieder in
       Friedensgruppen. Während die Trauer noch in den Anfängen steckt, werden wir
       weltweit mit entsetzlichen Reaktionen konfrontiert – viele davon von
       selbsternannten Progressiven –, die von der Leugnung der an israelischen
       Zivilisten begangenen Gräueltaten bis hin zu deren Rechtfertigung reichen.
       
       Selbsternannte [4][pro-palästinensische „Progressive“], die den Schrecken
       des Massakers vom 7. Oktober entweder rechtfertigen, leugnen oder einfach
       herunterspielen, stimmen – welche bittere Ironie – in einer Sache voll und
       ganz mit der Grundposition der israelischen Rechten überein: Palästinenser
       und die Hamas seien ein und dasselbe. Die Schlussfolgerungen sind nur
       scheinbar gegensätzlich: Für solche „Pro-Palästinenser“ ist das Ziel eine
       simple Vorstellung von „Dekolonisierung“, die faktisch das Verschwinden der
       Juden aus dem Land between the river and the sea bedeuten würde. Für die
       israelische Rechte ist die Schlussfolgerung, dass der Krieg gegen alle
       Palästinenser gerichtet ist – Palästina gleich Hamas.
       
       ## Unterscheidung zwischen zwei Kämpfen
       
       Die „postkoloniale“ Unterstützung für die Palästinenser mag dazu dienen,
       das Image des „gerechten Kriegers“ in digitalen Echokammern aufzupolieren,
       aber im wirklichen Leben befördert sie nicht nur Gewalt gegen Israelis und
       Juden weltweit, sondern auch die Ängste der Israelis und ihr Gefühl der
       Isolation – was wiederum dazu führt, die Palästinenser einer unerbittlichen
       Gewalt und Wut von israelischer Seite auszusetzen.
       
       Jede Hoffnung auf Frieden muss mit einer politischen und moralischen
       Unterscheidung zwischen zwei Kämpfen beginnen, die sich überlagern:
       einerseits dem Kampf der Palästinenser für Freiheit und Gleichheit und
       andererseits dem islamistischen Programm von Gruppen wie der Hamas und
       ihren Verbündeten, deren völkermörderisches Ziel abscheulich ist und für
       die Gewalt und Terror mehr als ein bloßes Mittel zum Zweck sind.
       
       Es wäre die zentrale Aufgabe der israelischen Linken, diesen Unterschied
       deutlich zu machen: Es gibt berechtige Forderungen der Palästinenser
       einerseits und andererseits den Terrorismus, der sich zunehmend als
       lautestes und vermeintlich einziges Mittel ihrer Befreiung zeigt. Nur ist
       es leider so: Der Wind ist derzeit gegen diejenigen gerichtet, die gegen
       die ständig eskalierende Gewalt ankämpfen – und die ohnehin zu den
       schwachen Kräften in Israel gehören.
       
       ## Eine zweite Nakba
       
       Was indes die Illusion von conflict management zerstörte, war der
       abscheuliche Angriff auf Zivilisten. Was am 7. Oktober geschah, war ein
       realer Albtraum: Die Israelis erlebten ein Pogrom innerhalb der souveränen
       Grenzen ihres Nationalstaats, und ihr grundlegendes Sicherheitsgefühl wurde
       erschüttert, wenn nicht gar gebrochen. Mit der militärischen Reaktion
       Israels (und dem zynischen Spiel der Hamas, die auf eine solche Reaktion
       setzte) erleben die Palästinenser eine zweite Nakba, erleiden
       unvorstellbare Verluste, werden aus ihren Häusern vertrieben und werden zu
       Vertriebenen auf ihrem eigenen Territorium.
       
       Die neue Katastrophe im Nahen Osten nach dem Massaker hat sich auch als
       neuer Tiefpunkt im öffentlichen Diskurs weltweit erwiesen. Man wird
       praktisch gezwungen, zwischen zwei inakzeptablen Positionen zu wählen:
       „Pro-Palästinensisch“ zu sein bedeutet demnach, den Schrecken des 7.
       Oktober zu rechtfertigen oder zu verharmlosen; „pro-israelisch“ zu sein ist
       gleichbedeutend damit, die zivilen Opfer in Gaza als unausweichlichen
       Kollateralschaden zu rechtfertigen oder herunterzuspielen und die Jahre der
       Besatzung zu ignorieren.
       
       Das extrem polarisierende Echo des Krieges sollte von der Öffentlichkeit
       auf der ganzen Welt mit Sorge zur Kenntnis genommen werden. Die jüngsten
       Ereignisse haben gezeigt, dass [5][Social Media eine erschreckende Macht]
       hat, politische Diskussionen so stark zu radikalisieren, dass sich ein
       regionaler Krieg zu einer globalen Katastrophe ausweiten könnte. Die
       Reaktionen auf den Krieg haben deutlich gemacht, dass die berühmten
       digitalen Echokammern keine frei schwebenden, isolierten Teilräume der
       öffentlichen Meinung hervorbringen – was schon schlimm genug wäre –,
       sondern unlösbare Konfliktpositionen erzeugen. Man fokussiert sich auf das
       Negative und die Irrtümer der anderen Seite. Die Punkte, bei denen die
       andere Seite recht haben könnte, werden ausgeblendet.
       
       ## Moral von Politik unterscheiden
       
       Können wir einen Ausweg aus der wachsenden Enttäuschung finden über die
       hehren Ideale der Aufklärung, die mehr und mehr nicht nur als gescheitert,
       sondern geradezu als heuchlerisch wahrgenommen werden (und was die zentrale
       ideologische Botschaft des neuen, überall auf dem Vormarsch befindlichen
       Autoritarismus ist)? In einer Zeit, in der unsere Welt mit hochgradig
       politisierten Katastrophen konfrontiert ist – von Krieg über Hungersnot bis
       hin zu Massenmigration –, ist in immer komplexeren politischen Situationen
       moralische Klarheit erforderlich.
       
       Wir müssen lernen, Moral von Politik und Machtdynamik zu unterscheiden,
       aber nicht zu trennen. In diesem Krieg besteht die Reaktion der Handelnden
       allzu oft darin, sich entweder hinter der Komplexität zu verstecken, um
       unmoralische Handlungen zu rechtfertigen, oder Moral und Vernunft zu
       zerstören.
       
       Es sollte nicht so schwer sein, zu erkennen, dass Macht zwar moralische
       Erwägungen beeinflusst, diese aber nicht außer Acht lassen sollte: Israel,
       die stärkere Partei im Konflikt, trägt mehr Verantwortung, trägt aber nicht
       die ganze Verantwortung. Sowohl aus moralischen als auch aus praktischen
       politischen Gründen kann die Unterstützung der Palästinenser nur mit einer
       absoluten Ablehnung der von der Hamas begangenen Gräueltaten einhergehen.
       Dies heißt – nochmal – anzuerkennen, dass der gerechte Kampf für die
       palästinensische Befreiung von den abscheulichen Taten der Hamas
       unterschieden werden muss.
       
       Die Unterstützung Israels wiederum kann nur mit einer Ablehnung
       zerstörerischer Kriegsführung, die zivile Opfer hinnimmt, und auch der
       Ablehnung der jahrzehntelangen Besatzung und der damit verbundenen
       siedlerkolonialen Dynamik einhergehen. Dies würde bedeuten, zwischen einem
       Existenzrecht, das allen gewährt werden sollte, und einem Recht auf
       Unterdrückung, das niemandem gewährt werden sollte, zu trennen.
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Gunnar Hinck 
       
       Yuval Kremnitzer unterrichtet Philosophie an der Universität Tel Aviv und
       forscht am Franz Rosenzweig Minerva Center. Sein Forschungsschwerpunkt ist
       die Krise moderner Gesellschaften als Problem des Nihilismus.
       
       2 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /30-Jahre-Osloer-Abkommen/!5954918
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Heuristik
   DIR [3] /Sexualisierte-Gewalt-durch-Islamisten/!5977286
   DIR [4] /Ueber-Philosophy-for-Palestine/!5969264
   DIR [5] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/desinformation-nahost-krieg-soziale-medien-100.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yuval Kremnitzer
       
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