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       # taz.de -- Die Wahrheit: Budenzauber auf dem Weihnachtsmarkt
       
       > Die Verbudung der Welt bringt ein Trauma hervor, das lange nachhallt und
       > den jahreszeitlich bedingten Besuch am Glühweinstand fast verhindert.
       
       Der von ihm bewunderte Wilhelm Genazino habe mal im Fernsehen, so sagte K.,
       nachdem ich ihn gefragt hatte, ob er mich auf den Weihnachtsmarkt begleiten
       wolle, über die zunehmende „Verbudung“ der Innenstädte geklagt. Immer wenn
       er zur Frankfurter Zeil komme, so Genazino, habe sich die Zahl der dort
       aufgebauten Verkaufsbuden vermehrt, was angesichts der Hässlichkeit der
       Zeil, so K., allerdings keine Sünde sei.
       
       Das Bedürfnis, Buden zu bauen, sei dem Menschen eigen, er zumindest habe
       gemeinsam mit seinen Freunden als Kind im an die Siedlung angrenzenden
       Wäldchen immerzu Buden gebaut, die dann von der Feindesbande, deren
       Mitglieder in einer anderen Siedlung jenseits des Wäldchens gewohnt hätten,
       umgehend zerstört worden seien. So wie sie, K. und seine Leute, jeden Tag
       das Wäldchen durchstreift hätten, in der Hoffnung, eine von den Feinden
       erbaute Bude zu entdecken, die sie dann umstandslos dem Erdboden
       gleichgemacht hätten.
       
       Zwar verspüre er heute kein Bedürfnis mehr, Buden zu bauen, der Drang, sie
       kaputt zu machen, sei ihm aber noch vertraut, zumal wenn es sich um
       Weihnachtsmarktbuden handele. Generell habe er keine Aversion gegen
       Weihnachtsmärkte, aber eine gegen diese Buden, aufgrund eines Traumas, das
       er vor Jahren erlitten habe.
       
       Er sei damals von einer unersprießlichen Weihnachtsfeier heimgekommen, sein
       Weg habe ihn durch die Innenstadt geführt. Trotz seiner Trunkenheit sei er
       in der Lage gewesen, strategisch zu denken, denn ihm sei die praktische
       Idee gekommen, den Heimweg durch die Überquerung des Marktplatzes
       abzukürzen. Er habe jedoch nicht bedacht, dass sich dort der
       Weihnachtsmarkt befand. Was dessen Existenz für die Durchführung seines
       Planes bedeuten würde, sei ihm erst klargeworden, nachdem er den Markt
       bereits betreten habe. Da sei es aber schon zu spät gewesen.
       
       Wohin er geschaut habe, überall seien Buden herumgestanden, eine wie die
       andre verhängt mit grünen Plastikplanen. Er sei von Buden umzingelt
       gewesen, unterschiedliche Wege zu entkommen habe er ausprobiert, jeder sei
       von weiteren Buden verstellt gewesen. Er habe über Stunden vergeblich und
       verzweifelt versucht, dem Labyrinth zu entrinnen. Erschöpft habe er sich
       schließlich auf den Boden gesetzt, um den Tod zu erwarten.
       
       Doch die grauenhafte Vorstellung, in ferner Zukunft beim Abbau des Marktes
       werde man seine Leiche finden, verwest, vielleicht skelettiert, habe ihm
       einen Energieschub für einen letzten Ausbruchsversuch verpasst. Und
       tatsächlich habe er irgendwann vor der vertrauten Ratsapotheke gestanden.
       Da habe er gewusst, dass er noch mal davongekommen sei.
       
       Einen Weihnachtsmarkt habe er seither nicht mehr betreten. Wir könnten uns
       aber gern beim „Bratwurst Glöckle“ treffen, wo die Wurst nur 3,50 Euro
       koste und nicht wie auf dem Weihnachtsmarkt 4,50 Euro. So haben wir’s dann
       gemacht.
       
       5 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Schaefer
       
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