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       # taz.de -- Die Wahrheit: Überraschende Überraschungen
       
       > Neues aus der Sprachkritik: Redundante Wiederholungen sinngleicher Wörter
       > sind inzwischen alltäglicher Alltag im Sprachgebrauch sprechender
       > Sprecher.
       
   IMG Bild: Viel zu viele Sprecher sagen viel zu viel immer wieder
       
       Sprachglossen schreiben ist eine „schwierige Gratwanderung“ (taz), auch
       eine „heikle Gratwanderung“ (ZDF) kann es sein und manchmal sogar eine
       „riskante Gratwanderung“ (ARD, Stichwort: Pluralismus). Schnell wird dem
       Kritiker „arroganter Dünkel“ (Jürgen Trabant, Stichwort: Linguist)
       unterstellt, weil er sich nicht „auf gleicher Augenhöhe“ (NDR 4) mit den
       vielzitierten Menschen bewege.
       
       Aber haben die Menschen überhaupt „Augen im Kopf“ (statt woanders)?
       Wahrscheinlich nicht! Sonst würden sie erkennen, dass ein „junger Steppke“
       (Göttinger Tageblatt) später einmal ein alter Greis sein wird, und in
       Deckung gehen, wenn „ein gegenseitiges Kräftemessen“ (taz) droht, statt
       dass jemand nur mit sich selbst ringt.
       
       Gerungen mit anderen aber hat im einstigen Deutsch-Ostafrika „Sindato
       Kiwelo“, der „zu Lebzeiten ein hochrangiger Krieger und Berater“ (taz) war
       – vorher und nachher aber, das ist wichtig!, nicht. Stichwort Krieg: Auch
       Krankheiten sind eine Geißel der Menschheit und besonders bedrohlich für
       die Personen, die erkranken: Das „Nilfieber kann zu Lähmungen führen, die
       in seltenen Fällen tödlich für die Betroffenen“ (taz) sind – und nicht etwa
       für alle anderen, wie man sonst glauben würde.
       
       Haben die Menschen wenigstens Ohren, um zu hören? Oder geht, was Radio und
       Fernsehen versenden, zum einen rein und zum anderen ohne Zwischenhalt raus?
       Andernfalls müsste man wenigstens stutzen, wenn NDR 4 ein „knappes
       Kopf-an-Kopf-Rennen“ beobachtet oder ZDFinfo behauptet, in der Forschung
       sei „ein großer Durchbruch“ gelungen.
       
       ## Dreimal wie Mephisto
       
       Noch viel größer geht es in der Populärkultur zu, wo RBB „die größten
       Schlagerkulthits der 70er“ ankündigt: Wie Goethes Mephisto muss man es
       dreimal sagen, damit man’s einmal kapiert – so schätzt der Sender sein
       Publikum ein. Allein arte, dem Kultursender, ist es gestattet, „eine
       außerordentliche Meisterleistung“ zu feiern, weil es für das
       Bildungsbürgertum, das in Kunst und Literatur eine „große Schlüsselrolle“
       (so ebenfalls arte) spielt, genügt, wenn man es zweimal sagt.
       
       Warum auch nicht? Reden kann und muss mitunter redundant sein wie das
       Leben, der Alltag. Wiederholungen können je nach Inhalt, Publikum und
       Situation sinnvoll und notwendig sein, weil Vorbildung und Vorwissen,
       Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft je verschieden sind. Lieber ein
       Wort zu viel als eines zu wenig! Prompt wird den deutschen
       Fernsehzuschauern sorgfältig erklärt, dass der französische Filmschurke
       Fantomas „die alleinige Weltherrschaft“ (ZDFneo) will – statt sie lieb mit
       anderen zu teilen.
       
       Auf solch „unerwartete Überraschungen“ (Kabel Eins) muss man beim
       Medienkonsum und auch sonst gefasst sein. Das Leben ist trivial und besteht
       aus einer Kette von, da ist das Wort zum zweiten Mal, Wiederholungen; warum
       sollten sie nicht auch in der Sprache sein. Die meisten Wörter hört, sieht
       und spricht man täglich wieder und wieder.
       
       Manchmal, wenn sie sich zu nahe kommen, ist es lustig, manchmal darf man
       „sehr schockiert“ (One) sein; manchmal findet man es bloß „bemerkenswert
       merkwürdig“ (taz), und manchmal – aber entscheiden Sie doch aktiv selbst
       und nehmen sich aktiv ein Beispiel an zahllosen Journalisten und
       Reklameleuten: Sie „entschieden sich aktiv dazu“ (Göttinger Tageblatt),
       dieses Wörtchen nicht passiv zu verwenden.
       
       ## Steinerne Rose
       
       Wie andere Tautologien, Pleonasmen und Banalitäten ist all das nicht
       sinnlos, sondern dient aktiv dazu, das Bekannte bekannt zu machen. Sie
       passen in die Gegenwart wie schon 1913, als die US-Amerikanerin Gertrude
       Stein das Gedicht „Sacred Emily“ schrieb, in dem die berühmte Zeile steht:
       „Rose is a rose, is a rose, is a rose“. Gute Dichter sind ihrer Zeit
       voraus, manche mehr als 100 Jahre, und dass Identität das große Ding sein
       wird, ahnte anscheinend Gertrude „Stein ist eine Stein ist eine Stein“
       Stein.
       
       Identität ist ein anderes Wort für Tautologie, und beide prägen die
       Gegenwart: zum einen die Beschäftigung mit der eigenen Person, weil jeder
       „seine eigene Verantwortung“ für sein eigenes Leben hat, zum anderen, wie
       der französische Philosoph Roland Barthes schon vor Jahrzehnten bemerkte,
       die Politik. Vordergründig scheint das „massiv harmlos“ (ARD) zu sein: Doch
       was weniger harmlos dahintersteht, was zum Vorschein kommt, was bezweckt
       wird, ist, bei aller Betriebsamkeit und Geschäftigkeit, der Stillstand; was
       sich massiv äußert, ist die Furcht vor substanzieller Veränderung, vor
       Verlust. Gesellschaft, Wirtschaft, alles soll bleiben, wie es ist.
       
       „Sprache ist sozusagen die persönliche Visitenkarte eines Einzelnen“,
       urteilte der Sprachtrainer Jens Krüger 2017 im persönlichen taz-Interview.
       Der „anerkannte Kenner“ (taz) hat recht – und unrecht: Sprache ist auch die
       Visitenkarte einer bemerkenswert merkwürdigen Gesellschaft.
       
       6 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Köhler
       
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