URI: 
       # taz.de -- Juden und Muslime in Sarajevo: Noch sind die Türen offen
       
       > Ungefähr 800 Juden leben in Sarajevo im Frieden mit ihren muslimischen
       > Nachbarn. Das Massaker der Hamas bleibt aber nicht ohne Folgen.
       
   IMG Bild: Chanukka in Sarajevo, 2011
       
       Auf dem linken Ufer des Miljackaflusses, der Sarajevo zerschneidet, liegt
       das jüdische Gemeindehaus mit der angeschlossenen Synagoge und dem Café –
       einem Treffpunkt für Juden und Nichtjuden in der Stadt. Auch jetzt steht
       die eiserne Tür offen, ist nicht verrammelt, wie Synagogen anderswo in
       Europa. Den erstaunten Blick des Besuchers bemerkend sagt der Vorsitzende
       der Gemeinde, der 80-jährige Jakob Finci, mit einladendem Lächeln: „Wir
       brauchen nach wie vor keinen Polizeischutz in Sarajevo.“
       
       Die rund 800 Juden sind trotz des brutalen Krieges in Israel und Palästina
       in ihrer Stadt unbehelligt geblieben und das, obwohl mehr als 80 Prozent
       der Bewohner der Stadt Bosniaken, also Muslime sind, sagt er. Er freut sich
       [1][gerade nach dem 7. Oktober] über die Sorge von prominenten Bürgern für
       ihn und seine Gemeinde.
       
       Die legendäre Altstadt von Sarajevo mit ihren Moscheen, Kirchen und
       Synagogen gilt seit Jahrhunderten als Ort der Toleranz zwischen diesen
       Weltreligionen. Die Osmanen verfügten schon 1463 Religionsfreiheit, als in
       Deutschland die Inquisition wütete und noch Jahrhunderte später Frauen als
       Hexen verbrannt wurden. Hier gab es [2][bis 1941] weder Gettos noch
       Judenverfolgungen wie in West- und Osteuropa.
       
       Die alte Synagoge in Sarajevo ist ein Museum, das die 500- jährige
       Geschichte der Juden in der Stadt reflektiert. Es wird gezeigt, wie die
       Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden und
       dann später die vom Habsburgerreich eingewanderten Aschkenasim Sarajevo
       mitgeprägt haben.
       
       ## Gravierender Zivilisationsbruch
       
       Hier begann 1941 aber auch das große Verbrechen. Nachdem deutsche Truppen
       Jugoslawien erobert hatten, mussten die meisten Juden der Stadt hier auf
       den Abtransport warten. Sie wurden in das von kroatischen Extremisten
       betriebene [3][KZ Jasenovac] gebracht. Das war ein für die Stadt
       gravierender Zivilisationsbruch, bis dahin lebten 12.000 Juden in Sarajevo
       und stellten über 20 Prozent der damaligen Bevölkerung.
       
       Juden hatten also über Jahrhunderte ganz selbstverständlich zur Stadt
       gehört, teilen bis heute die Tradition und ihren kosmopolitischen Geist.
       Die sozialdemokratische Bürgermeisterin Benjamina Karić hat selbst jüdische
       Wurzeln und ist mit einem Bosniaken, also Muslim verheiratet. Sie
       verkörpert in ihrer Person diese Tradition.
       
       Mit dem jetzigen Krieg in Israel/Palästina wird das traditionelle
       Zusammenleben zwischen Bosniaken (Muslimen) und Juden jedoch auf eine Probe
       gestellt. Vor allem jugendliche Bosniaken könnten leicht die gemeinsame
       Geschichte und Tradition ausblenden. Denn die Nachrichten vom Krieg in Gaza
       und vom Terror der Siedler im Westjordanland wühlen ihre Gefühle auf.
       
       Seit dem 7. Oktober, dem brutalen Massaker der Hamas an Juden und der
       [4][brutalen] israelischen Reaktion, gab es zwei Demonstrationen pro
       Palästina in Sarajevo. Es kamen jeweils einige Tausend Menschen mit
       Palästinaflaggen und selbstgemalten Plakaten. Eine junge Frau zeigte erst
       nach Aufforderung, was auf ihrem eingerollten Plakat zu lesen war … vom
       Fluss bis zum Meer … Doch sie rollte es schnell wieder ein, diese Parole
       gab es in Sarajevo sonst nicht zu sehen. Es blieb alles sehr friedlich,
       obwohl die serbischen und kroatischen Medien aus Banja Luka und Mostar vor
       radikalen Muslimen gewarnt hatten, angeblich sollte eine
       Palästinensergruppe die Demonstrationen anleiten.
       
       ## Klar für eine [5][Zweistaatenlösung]
       
       Muhammed, 18-jähriger Palästinenser und Student der Internationalen
       Universität in Ilidža, stand bei der zweiten Demonstration Mitte November
       zusammen mit einer Gruppe von StudentInnen in der Menge. Sein Vater habe
       ihn über Jordanien nach Bosnien in Sicherheit gebracht. Von radikalen
       Parolen wie der auf dem Plakat hält er nichts, er sei klar für eine
       [6][Zweistaatenlösung], erklärte er unter dem zustimmenden Nicken der
       Gruppe.
       
       Aber die Informationen über die Lage der Menschen in Gaza und auch im
       Westjordanland seien schrecklich. „Wo sollen die Gazabewohner denn hin? Es
       gibt keinen sicheren Platz mehr für sie. Und will denn niemand den Terror
       der israelischen Siedler im Westjordanland stoppen?“
       
       Auch die älteren Demonstrierenden sind nachdenklich. Vom Rathausplatz
       schweift der Blick nach oben, von wo die serbischen Artilleristen [7][1992
       bis 1995] Hunderttausende Granaten auf die Stadt und auf das Gebäude der
       damaligen Bibliothek, dem jetzigen Rathaus, geschossen hatten. Wer das
       Inferno überlebte, weiß genau, wie sich die Menschen in Gaza unter dem
       Hagel der israelischen Granaten [8][jetzt fühlen müssen.]
       
       Mitleiden zu können ist jedoch etwas anderes, als Hass zu spüren. Ahmed
       Burić hat mit vielen Opfern der Verbrechen der ethnischen Säuberungen
       gesprochen, kennt deren grausames Schicksal. Schon während des Krieges war
       er ein bekannter Journalist in der Stadt. Und er ist als Bürger ein
       Sarajevoer Urgestein.
       
       ## Keine Racheaktion
       
       „Wir in Sarajevo können gar nicht hassen“, erklärte er vor drei Wochen
       angesichts der friedlichen Demonstrationen gegen Israel. Nach dem Krieg
       habe es vonseiten der Opfer keine Racheaktion gegen die Angreifer und
       Mörder von damals gegeben.
       
       Doch mit jedem Tag des Krieges in Gaza sind immer mehr Bilder zu sehen und
       auch Berichte zu lesen, die das brutale Vorgehen des israelischen Militärs
       und der Siedler dokumentieren. Wird der Gazakrieg auch in Sarajevo als
       Angriff Israels und seiner Verbündeten auf den Islam und die Muslime
       insgesamt verstanden? Den Krieg als Kulturkampf Islam – Westen zu deuten,
       wird zumindest immer populärer.
       
       Dass auch gute Bekannte und Freunde aus der Zivilgesellschaft dem Westen,
       den USA, Europa und auch Deutschland Doppelmoral vorwerfen, ist ein
       ernstzunehmendes Warnzeichen. Auch die bisher gemäßigte muslimische
       Nationalpartei SDA, bis vor Kurzem noch proeuropäisch geprägt, scheint
       jetzt umzuschwenken. In den leicht zu manipulierenden sozialen Medien
       werden radikale islamistische Töne immer lauter.
       
       Anonyme Hasskommentare treffen sogar jene, die wie der Direktor der
       Gedenkstätte in Potocari (Srebrenica), [9][Emir Suljagic], in aller Welt
       überzeugend als Botschafter der muslimischen Opfer im letzten Krieg
       auftreten. 1995 wurden in Srebrenica über 8.000 Menschen von der serbischen
       Soldateska ermordet, [10][„nur weil sie Muslime“] waren. Darunter waren
       sein Vater und Bruder.
       
       Suljagic tritt für eine Erinnerungskultur ein, die umfassend ist und auch
       andere Opfergruppen einschließt. Er unterhält enge Kontakte zum jüdischen
       Weltkongress und will sich nicht von seinen Grundsätzen abbringen lassen.
       Aber natürlich erschüttern die Ereignisse in Gaza ihn und seine
       Mitstreiterinnen, die „Mütter von Srebrenica“.
       
       Dass der jüdische Weltkongress, aber auch viele jüdische Persönlichkeiten
       und Intellektuelle wie Susan Sonntag in den USA, in Europa und in Israel
       während des Krieges 1992–95 für die Verteidiger Bosniens, also die
       Bosniaken und Nichtnationalisten, eingetreten sind, sich gegen die
       Angreifer positionierten, hat in Bosnien, aber auch in Serbien und Kroatien
       Spuren hinterlassen.
       
       Mit dieser Haltung vieler Intellektueller ist es gelungen, in der
       Weltöffentlichkeit die Verbrechen in Bosnien anzuprangern und die Muslime
       Bosniens als Opfer anzusehen. In Serbien und Kroatien hingegen mussten sich
       viele wegen der Kriegsverbrechen verantworten. Das hat die Nationalisten in
       Serbien und Kroatien ziemlich gewurmt.
       
       Nicht zu kaschieren war und blieb im jüdischen Gedächtnis haften: Dass die
       kroatischen Ustaschen im Zweiten Weltkrieg aus freien Stücken Zehntausende
       Juden, Serben und Roma ermordet haben. Und auch, dass das serbische,
       hitlertreue Regime von Milan Nedić die serbischen Juden nach Auschwitz
       deportieren ließ.
       
       In Kroatien und Serbien haben führende Parteien und Kräfte in den letzten
       Jahrzehnten versucht, einen Mantel des Schweigens und Vergessens über diese
       Tatsachen zu breiten. Doch jetzt versuchen die Nationalisten beider Länder,
       mit antiislamischen Positionen den bosnischen Islam als gefährlich
       islamistisch darzustellen und die Juden der Welt auf ihre Seite zu ziehen.
       
       Seit einigen Jahren kann man beobachten, wie serbische und kroatische
       nationalistische Politiker und Extremisten sehr israelfreundlich geworden
       sind. So fuhren der kroatische wie der serbische Nationalistenführer in
       Bosnien in den letzten Jahren nach Israel und besuchten die Gedenkstätte
       Yad Vashem.
       
       Der serbisch-bosnische Nationalist und Präsident der serbischen
       Teilrepublik, [11][Milorad Dodik,] erklärte sogar, Serben und Juden seien
       die hauptsächlichen Opfernationen in Europa. Und auch sein Kollege, der
       kroatische Nationalistenführer Dragan Čović, malt in Bosnien den
       islamistischen Teufel an die Wand, ohne zu erwähnen, dass seine Partei HDZ
       in Westmostar Straßennamen nach bekannten Ustascha-Führern benannt hat, die
       an der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg mitgewirkt haben.
       
       7 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Folgen-der-Hamas-Barbarei/!5963295
   DIR [2] /Ueberfall-auf-Jugoslawien-vor-80-Jahren/!5758935
   DIR [3] /!1268289/
   DIR [4] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5978319
   DIR [5] /US-israelische-Beziehungen/!5978379
   DIR [6] /US-israelische-Beziehungen/!5978379
   DIR [7] /Geschichtsaufarbeitung-in-Bosnien/!5852289
   DIR [8] /Antisemitismus-an-US-Eliteunis/!5977408
   DIR [9] /Beziehung-Bosniens-zu-Russland/!5501283
   DIR [10] https://www.youtube.com/watch?v=EW0Atcdy38g
   DIR [11] /Archiv-Suche/!5971388&s/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erich Rathfelder
       
       ## TAGS
       
   DIR Pogrom
   DIR Sarajevo
   DIR Bosnienkrieg
   DIR Balkan
   DIR GNS
   DIR Judentum
   DIR Bosnien und Herzegowina
   DIR Srebrenica
   DIR Serbien
   DIR Westbalkan-Staaten
   DIR Bosnienkrieg
   DIR Bosnien-Herzegowina
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Proteste in Bosnien und Herzegowina: Auf die Straße gegen Wahldiskriminierung und Christian Schmidt
       
       In Sarajevo demonstrierten am Donnerstag Abend Hunderte gegen den Hohen
       Repräsentanten. Der will ein EGMR-Urteil gegen Wahldiskriminierung
       anfechten.
       
   DIR Weltweiter Gedenktag für Srebrenica: Große Erleichterung in Sarajevo
       
       Gegen den Widerstand Serbiens führt die UN-Vollversammlung einen Gedenktag
       an das Massaker im Jahr 1995 ein. Aber viele Länder enthalten sich bei der
       Abstimmung.
       
   DIR Wahlen in Serbien: Vučić lässt sich als Sieger feiern
       
       Die Liste des omnipräsenten Staatschefs wird stärkste Kraft. Die Opposition
       erhebt schwere Betrugsvorwürfe und ruft ihre Anhänger zum Protest auf.
       
   DIR EU und der Westbalkan: Länder im Dauerwartezustand
       
       Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union führen viele Länder des
       Westbalkans schon seit Jahren. Voran geht dabei nur wenig.
       
   DIR Retraumatisierung in Bosnien: Nächte im Keller, Hunger und Kälte
       
       Über 30 Jahre nach dem Bosnienkrieg führen Bilder aus der Ukraine zu
       Retraumatisierung. Viel Solidarität zeigt das gespaltene Land aber nicht.
       
   DIR Europäischer Gerichtshof zu Bosnien: Braucht es eine neue Verfassung?
       
       Die Verfassung in Bosnien und Herzegowina verstößt gegen europäisches
       Recht. 28 Jahre nach dem Frieden von Dayton nimmt der Nationalismus im Land
       zu.