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       # taz.de -- Haushaltsstreit und Bürgergeld: Wieder nur Vorurteile
       
       > In klammen Zeiten wachsen Ressentiments gegenüber Empfängern von
       > Sozialleistungen. Am Ende müssen arme Menschen die Ideenlosigkeit der
       > Regierung ausbaden.
       
   IMG Bild: Besonders die Armen litten und leiden unter den gestiegenen Preisen durch die Inflation
       
       Es gibt eine paradoxe Dynamik in der Debatte über die Grundsicherung und
       diese lässt sich derzeit wieder beobachten. Das Bürgergeld beinhaltet zwei
       Verdachtsmomente, die zu jeder Sozialleistung für Nichtarbeitende gehören,
       die von Erwerbstätigen finanziert wird. Vorwurf Nummer eins lautet: Die
       Sozialleistung ist zu hoch im Vergleich zu den Löhnen, das ist ungerecht.
       Vorwurf Nummer zwei: Die Sozialleistung ist so hoch, dass die Menschen
       verleitet werden, nicht zu arbeiten.
       
       Der Vorwurf, die Grundsicherung verleite zur Faulheit, wird paradoxerweise
       immer dann erhoben, wenn der Arbeitsmarkt nicht so gut läuft und die Zahl
       der Leistungsempfänger:innen steigt. Diese Dynamik erlebten wir in
       den Nullerjahren um das Jahr 2000, als es aufgrund des Jobabbaus und der
       Spätfolgen der Wiedervereinigung schwer war, eine Stelle zu finden und
       Massenarbeitslosigkeit herrschte.
       
       Damals wurde die angeblich zu hohe Grundsicherung in Form der
       „Arbeitslosenhilfe“ als eine der Schuldigen ausgemacht und abgeschafft. Es
       kam zu [1][Hartz IV]. Nun trübt sich nach besseren Zeiten die Wirtschaft
       wieder ein und die Zahl der Leistungsempfänger:innen ist auch durch
       die [2][Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine] gestiegen. Hinzu kommen die
       Haushaltsprobleme. Und wieder wachsen die Ressentiments gegenüber
       Bürgergeld-Beziehenden.
       
       Befeuert wird die Debatte durch die neue ergänzende Fortschreibung des
       Bürgergeldregelsatzes. Diese wurde aufgrund der starken Preissteigerungen
       in den vergangenen Jahren eingeführt. Die Ampel hatte sich mit Zustimmung
       der Union darauf geeinigt. Die Formel ist in Paragraf [3][28 a des
       Sozialgesetzbuches XII] festgelegt.
       
       ## Anpassung an die Preissteigerungen
       
       Danach steigen die Regelsätze ab Januar 2024 deutlich, nämlich um 12
       Prozent, weil erstens die Inflation des zurückliegenden Jahres in die
       Erhöhung der Regelsätze einfließt und zweitens auch noch die Inflation im
       zweiten Quartal dieses Jahres als Berechnungsgröße obendrauf kommt. Die
       [4][vergleichsweise starke Erhöhung] ist also eine Folge der
       zurückliegenden Preissteigerungen und der neuen ergänzenden Fortschreibung.
       Die Erhöhung für das Jahr 2025 dürfte deutlich niedriger ausfallen, weil
       die Inflation inzwischen gesunken ist.
       
       Man könnte den Paragrafen 28 a im SGB XII wieder ändern und 2025 zur alten
       Erhöhungsmethode zurückkehren oder gar für das Jahr 2025 eine Nullrunde
       fordern, was die FDP tut. Aber welches Signal ginge davon aus, wenn
       angesichts der Haushaltsprobleme und eines sich eintrübenden Arbeitsmarktes
       wieder bei den Armen gekürzt wird, die besonders unter den gestiegenen
       Preisen litten und leiden? Womit wir bei der Gerechtigkeitsfrage wären.
       
       Ja, es gibt Missbrauch beim Bürgergeld und der Lohnabstand ist ein heikles
       Thema. Es gibt Leute, die Bürgergeld beziehen, in der Kneipe des Bekannten
       angeblich nur einen Minijob haben und in Wirklichkeit viel mehr „schwarz“
       dazu verdienen, auf Dauer. Es gibt den Punkie, der vorrechnet, für 300 Euro
       mehr Einkommen im Vergleich zum Bürgergeld ackere er nicht den ganzen Tag,
       „das wären nur 2 Euro die Stunde, nein danke!“. Es gibt noch mehr an
       fragwürdigen Leistungsbezieher:innen.
       
       Doch dies ist nur eine kleine Minderheit in der Grundsicherung. Nach der
       [5][Statistik der Bundesagentur für Arbeit] beziehen 5,4 Millionen Menschen
       Grundsicherung für Arbeitssuchende, darin inbegriffen sind rund 1,5
       Millionen Kinder. Hinzu kommen 1,2 Millionen Leute auf Grundsicherung im
       Alter und bei Erwerbsminderung. 6,6 Millionen Menschen sind also
       existenziell von der Berechnung des Regelsatzes abhängig.
       
       ## Verschwindend wenige, die keine Lust auf Arbeit haben
       
       Von diesen 6,6 Millionen Menschen gelten nur 1,7 Millionen in der Statistik
       als „arbeitslos“. Die nichtarbeitslosen erwachsenen
       Bürgergeldempfänger:innen betreuen kleine Kinder, pflegen, studieren
       oder gehen noch zur Schule, sind in Weiterbildungs- und
       Beschäftigungsmaßnahmen, sind Aufstocker:innen oder auch arbeitsunfähig
       erkrankt.
       
       Aus der Forschung weiß man, dass von den sogenannten arbeitslosen
       Leistungsbezieher:innen wiederum viele keine Qualifikation haben,
       körperlich oder psychisch eingeschränkt sind, zu wenig Deutsch sprechen,
       Suchtprobleme haben, abgelegen wohnen ohne Führerschein. Es gibt einen
       Graubereich von arbeitslosen Leistungsbezieher:innen, das erzählen auch
       Sachbearbeiter:innen, wo man tatsächlich [6][zu wenig Motivation] vermutet
       und die Anpassungsbereitschaft fehlt.
       
       Nur: Man kann nicht die überwältigende Mehrheit von 6,6 Millionen
       Leistungsbezieher:innen in Geiselhaft nehmen für die fehlende
       Arbeits- und Qualifikationsbereitschaft relativ kleiner Gruppen. Eine
       Politik der breiten Streichung in wirtschaftlich klammen Zeiten wird leider
       dann von vielen mitgetragen, wenn der Missbrauch bestimmten
       Minderheitengruppen zugeschrieben wird, gegenüber denen man Vorurteile
       mobilisieren kann.
       
       Das sind nichtarbeitende und sich nicht qualifizierende junge Leute,
       kinderreiche Familien mit Migrationshintergrund oder jetzt auch aus dem
       Krieg geflüchtete Ukrainer:innen. Diese sind oft Mütter mit Kindern,
       denen neuerdings in der politischen Debatte eine zu niedrige Erwerbsneigung
       zugeschrieben wird, obwohl die Kinderbetreuung ein oftmals ungelöstes
       Problem ist und der Spracherwerb Zeit braucht.
       
       Es ist nicht fair, den Sozialstaat auszunutzen. Es ist aber genauso wenig
       fair, die Grundsicherung für Arbeitslose, [7][Alleinerziehende],
       Kinderreiche, Alte, Kranke und sonst wie Eingeschränkte grundsätzlich zu
       verringern und dies mit angeblich nötiger Disziplinierung aufgrund
       fehlender Arbeitsbereitschaft zu bemänteln. Wer Nullrunden oder Kürzungen
       verordnen will, lässt die Armen den Preis für die aktuelle Hilfs- und
       Ideenlosigkeit der Regierung zahlen. Das ist politisch verantwortungslos.
       
       8 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vor-der-Einfuehrung-des-Buergergeldes/!5900367
   DIR [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [3] https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/__28a.html
   DIR [4] /Streit-um-Buergergeld/!5978446
   DIR [5] https://www.arbeitsagentur.de/datei/arbeitsmarktbericht-november-2023_ba046089.pdf
   DIR [6] /Debatte-ueber-Buergergeld/!5974050
   DIR [7] /Alleinerziehende-Muetter/!5921402
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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