URI: 
       # taz.de -- Wuppertaler Kulturzentrum „börse“: Gottseidank nicht in England
       
       > „Die börse“ in Wuppertal ist die Wiege der westdeutschen Punkszene. Nun
       > feiert das Kulturzentrum ein ganzes Jahr Jubiläum. Zeit für einen
       > Ortsbesuch.
       
   IMG Bild: Sänger Gabi Delgado von Deutsch Amerikanische Freundschaft in Wuppertal, 1978
       
       „Ich brauch deinen Schutz, und möcht dich beschützen/Ich hab dich
       nötig/Will dich nicht benützen“, singt [1][Peter Hein], Sänger der
       [2][Fehlfarben], [3][im Song „All that Heaven Allows“], einem Track [4][vom
       legendären Album] „Monarchie und Alltag“.
       
       Der große Saal der Wuppertaler „börse“ ist voll. 350 Gäste schwelgen zur
       Musik, viele der Anwesenden kennen die Band seit ihrer Gründung 1979,
       manche Anwesende besuchen das soziokulturelle Zentrum in Wuppertal sogar
       schon seit seiner Eröffnung vor 50 Jahren.
       
       Es gehört zum Inventar der Stadt. Auch die Geschichte der Fehlfarben ist
       eng verknüpft mit der „börse“. Wie diese sind die Fehlfarben ein Ergebnis
       aus der Aufbruchsstimmung Mitte der 1970er Jahre, „börse“ und Fehlfarben
       haben sich ihre Haltung bewahrt und lieben Musik, am liebsten
       ohrenbetäubend laut.
       
       ## Platz für Jazz
       
       Als die „börse“ ihren Trägerverein im Mai 1973 gründet und schließlich am
       8. November 1974 ihre Türen im Gebäude am Viehhof öffnet, gibt das
       „Kommunikationszentrum Wuppertal“ jungen Musiker*innen eine Bühne. Die
       Gründungsmitglieder Dieter Fränzel und Rainer Widmann räumen zunächst dem
       Jazz Platz im Programm ein.
       
       Für den jungen Bassisten Michael Kemner, später Gründungsmitglied der
       Fehlfarben, wird die „börse“ daher Mitte der 1970er zum Wohnzimmer. Er
       bewundert die, die auf der Bühne stehen: „Ich konnte mir vorher nicht
       vorstellen, mal selbst hier aufzutreten.“
       
       Doch ab 1978 gibt börsen-Geschäftsführer Frederick Mann Punk und
       Neue-Welle-Bands wie Mittagspause, Der Plan, S.Y.P.H. und
       [5][Deutsch-Amerikanische Freundschaft] Auftrittsmöglichkeiten, berichten
       [6][Kurt „Pyrolator“ Dahlk]e und Frank Fenstermacher, die beide beim Plan
       spielen und dann auch bei den Fehlfarben. Sie haben einen Probenraum in der
       „börse“, in dem auch Musik aufgenommen wird, und gehören zu den Stammgästen
       des „Wackeltreff“, der Partyreihe am Donnerstagabend.
       
       ## Progressive Subkultur
       
       Wuppertal ist damals ein Zentrum progressiver Subkultur. [7][Fluxuskünstler
       Nam June Paik macht hier Aktionen. Freejazz-Saxofonist Peter Brötzmann
       fungiert zunächst als dessen Assistent.] Brötzmanns Kollege Peter Kowald
       spielt morgens auf seinem Balkon das Alphorn, „was das ganze Viertel mit
       anhören durfte“, wie Kurt Dahlke erinnert. [8][Pina Bausch erfindet in
       Wuppertal mit ihren Choreographien eine neue Form von zeitgenössischem
       Tanz], während eine Variante von Free Jazz von Wuppertal aus in die Welt
       röhrt.
       
       Die Fehlfarben nehmen 1980 ihr Album „Monarchie und Alltag“ auf. Das
       legendäre Cover ziert das Foto eines schnöden Mehrfamilienhauses im
       Wuppertaler Stadtteil Elberfeld. Damals, so erklären es die
       Fehlfarben-Mitglieder, brauchte es vor allem Mut und eine Idee, um auf die
       Bühne zu gehen. Und Sänger Peter Hein sei dann so auch geblieben: Ein
       Anti-Held, immer gegen alles, aber mit Haltung.
       
       Die Aufbruchsstimmung der späten 1970er bis heute zu bewahren ist der Stadt
       Wuppertal vielleicht nicht in jederlei Hinsicht gelungen. Doch dass der
       „börse“ als eines der ersten soziokulturellen Zentren in Westdeutschland
       seit Gründung eine wichtige Instanz für die Stadt – und darüber hinaus für
       die Region – Bedeutung zukommt, bleibt unumstritten. Sie hat vielen Bands
       wie etwa den Fehlfarben eine Bühne gegeben, bevor sie bekannt wurden. Von
       hier aus organisierte sich die Wuppertaler Anti-AKW-Bewegung, viele
       Initiativen und Communities finden hier seit 50 Jahren Raum. Der bereits
       erwähnte Wackeltreff spielte eine identitätsstiftende Rolle im Leben vieler
       Menschen.
       
       ## Wird gebraucht, ist immer voll
       
       Dass ein solches Zentrum gebraucht wird, zeigt der Andrang in den ersten
       zwei Monaten. 50.000 Besuche zählt die „börse“ allein im November und
       Dezember 1974. Das Haus ist immer voll, nicht nur, weil das Angebot von
       Konzerten bis zum Engagement für Senior*innen und Jugendliche reicht,
       sondern auch, weil die Eintrittspreise so günstig sind, dass sich viele
       diese leisten können.
       
       Drei Jahre nach Eröffnung erleidet die „börse“ einen Schock. 1977 brennt
       der Dachstuhl des Gebäudes am Viehhof. Die Brandursache ist bis heute
       ungeklärt. Das Kommunikationszentrum muss in ein Provisorium in Stadtmitte
       ziehen und macht dort weiter, bis es 1981 an den Viehhof zurückkehren kann.
       Übrigens hat die „börse“ den Namen der Kneipe übernommen, die sich schon
       immer im Gebäude befand.
       
       Die 1980er sind ein Jahrzehnt voller Musik, wofür Punk und NdW sorgen,
       schwofend erobern Frauen die Tanzfläche, die halbe Stadt wackelt beim
       Wackeltreff mit. Doch es ist auch eine Zeit der politischen
       Positionierungen, damals gegen rechtsradikale Skinheads. Die „börse“ darf
       sich jedoch nicht zu weit links positionieren, damit die Zuschüsse von der
       Stadt nicht gekürzt werden.
       
       ## Schwieriger Nachbar
       
       In den 1990ern folgt eine schwierige Zeit. „Ein Anwohner versaut allen die
       Party“, erklärt der amtierende Geschäftsführer Lukas Hegemann. Der Nachbar
       klagt wegen Lärmbelästigung, bekommt Recht, in der „börse“ herrscht nun ab
       22 Uhr Nachtruhe.
       
       Mit einem neuen Konzept, das einen Kneipenbetrieb vorsieht und ausgelagerte
       Partys, schafft es die „börse“, zu überleben. 1998 zieht sie in eine alte
       Fabrik an der Wolkenburg, wo sie sich noch heute befindet. Es bleibt
       anstrengend für das Zentrum, auch wenn an der neuen Adresse ordentlich
       Krach gemacht werden kann. Die Stadt muss in den Nullern sparen. Nur durch
       das Sammeln von Unterschriften und Soli-Demonstrationen wird die „börse“
       gerettet – aber die Zuschüsse werden gekürzt.
       
       Heute befindet sich das soziokulturelle Zentrum erneut in einer Phase des
       Umbruchs, sagt Lukas Hegemann. Zum 50. Geburtstag wird nun [9][mit vielen
       Veranstaltungen ein volles Jahr gefeiert], bis zum November 2024, etwa mit
       der Konzertreihe „50 Bands gratulieren“.
       
       ## Mehr Lobby für Soziokultur
       
       Fehlfarben haben mit ihrem Auftritt den Auftakt gemacht. Und dass es mal
       wieder nicht so rosig aussieht, was die Finanzen angeht, sollte vor dem
       Konzert bei einer Podiumsdiskussion mit NRW-Kulturministerin Ina Brandes
       (CDU) besprochen werden – doch die Ministerin erschien nicht, weil der
       Wissenschaftsausschuss länger tagte. So sind sich bei der Diskussion alle
       einig, welche Bedeutung der Soziokultur zukommt. Der Wuppertaler
       Oberbürgermeister Uwe Schneidewind (Grüne) erklärt die „börse“ zum
       „Identitätsort über Generationen hinweg“. Und Andreas Bialas
       (kulturpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion) wünscht der
       Soziokultur eine stärkere Lobby.
       
       Moderator Peter Grabowski fügt hinzu, dass solch unterfinanzierte
       Einrichtungen oft den Kitt für die Gesellschaft bilden. An einem Vergleich
       macht er deutlich, wie der Stellenwert von Soziokultur ist: „Für den
       NRW-Kulturetat sind 2023 rund 322 Millionen Euro vorgesehen. Davon gehen
       etwa 2,5 Millionen in die Soziokultur, was weniger als einem Prozent
       entspricht. Und etwa 85 Millionen Euro sind für die Theaterförderung
       gedacht, circa 26,4 Prozent.“
       
       Und das, obwohl soziokulturelle Zentren in NRW im Vor-Pandemie-Jahr 2019
       2,6 Millionen Besuche zählten, die öffentlich geförderten Theater in NRW
       3,1 Millionen Besuche. Heike Herold, Geschäftsführerin der
       Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur, sagt, dass die vom Land geforderten
       sieben Millionen Euro pro Jahr für die Soziokultur zwischen den Sparten für
       Fairness sorgen könnten. „Wir wollen ja nicht unverschämt sein, wir fordern
       nicht 45 Prozent des Kulturetats, aber zwei Prozent wären echt klasse.“
       
       ## Fehlende Großzügigkeit
       
       „börse“-Geschäftsführer Lukas Hegemann antwortet auf die Frage, ob das Geld
       aktuell reicht, dass er schon Gespräche mit Kolleg*innen führe, ob sie
       nicht ihre Arbeitsstunden reduzieren. „Das macht keinen Spaß“, findet er.
       „Uns fehlt die Großzügigkeit.“ Doch um eine Entscheidung herbeizuführen,
       braucht es bei der Diskussion eben die Ministerin. Und die ist leider nicht
       dabei.
       
       „Wir spielen jetzt einfach den alten Kack und dann gehen wir nach Hause“,
       schlägt Fehlfarben-Sänger Peter Hein später auf dem Konzert lakonisch vor
       und stimmt Songs wie „Gottseidank nicht England“ aus dem Album „Monarchie
       und Alltag“ an. Was vielleicht als logische Reaktion auf die finanzielle
       Lage gedeutet werden kann, bis sich die Soziokultur eines Tages nicht mehr
       ganz so prekär organisieren muss.
       
       Trotz allem bejubelt Lukas Hegemann die Fehlfarben-Songs, während Frederick
       Mann, der die Band 1979 zum ersten Mal in Wuppertal auf die Bühne holte, in
       roten Socken der Musik lauscht. Das Haus vom Cover hat die Band bei ihrem
       Besuch in Wuppertal nicht wieder gefunden. Dafür aber ihr Publikum, das für
       kurze Zeit wieder in der Aufbruchstimmung der späten 1970er schwelgt.
       
       Transparenzhinweis: Die Autorin hat 2023 zeitweise Pressearbeit für „die
       börse“ gemacht
       
       25 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Musiker-Peter-Hein-ueber-Trotz/!5270454
   DIR [2] /Fehlfarben/!t5274096
   DIR [3] https://youtu.be/93iqEjTby10?si=dz1aVfq8CzNF9r-V
   DIR [4] /!5542377/
   DIR [5] /Gabi-Delgado-Lopez-ist-tot/!5670679
   DIR [6] /Wire-in-Duesseldorf-am-9111978/!5724147
   DIR [7] /Freejazzsaxofonist-Peter-Broetzmann-gestorben/!5942678
   DIR [8] /Zum-10-Todestag-von-Pina-Bausch/!5605719
   DIR [9] https://www.dieboerse-wtal.de/dieboersewird50/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Komorek
       
       ## TAGS
       
   DIR Wuppertal
   DIR Subkultur
   DIR Punk
   DIR Punk
   DIR Wuppertal
   DIR Punk
   DIR Folk
   DIR Post-Punk
   DIR Punk
   DIR Pop
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Werkschau der Solinger Band S.Y.P.H.: Als Umkehrung von Rousseau
       
       Wahre Betonkunst: Neu aufgelegte Werkschauen der Solinger Punker S.Y.P.H.
       ermöglichen die Wiederbeschäftigung mit einer eigenständigen und seltsamen
       Band.
       
   DIR Technoclub Open Ground: Klangwunder in Wuppertal
       
       Auf nach Wuppertal! Denn dort residiert seit Kurzem mit dem Open Ground
       einer der besten Technoclubs im ganzen Land. Ein Augen- und Ohrenschein.
       
   DIR Ulrich Gutmair über NDW und Migration: „Alles ist so teuer geworden“
       
       taz-Redakteur Ulrich Gutmair spricht in Bremen über Untergrund-Musik,
       urbane Räumen und die Rolle von Migrant*innen für Punk und NDW.
       
   DIR Nachruf auf Pogues-Sänger Shane MacGowan: „Du bist das Licht“
       
       Shane MacGowan, Gründer der irisch-englischen Band The Pogues, ist
       gestorben. Ein Nachruf auf eine Legende des 80er-Folkpunk.
       
   DIR Wire in Düsseldorf am 9.11.1978: Die verspätete Revolution
       
       Punk kam mit Wire nach Westdeutschland. Am 9. November 1978 spielte die
       Band im Ratinger Hof in Düsseldorf ihr erstes Auslandskonzert.
       
   DIR Gabi Delgado-Lopez ist tot: Tu so, als wär's das letzte Mal
       
       Gabi Delgado-Lopez war ein radikaler Künstler, ein Tänzer, Sänger und
       Dichter. Musik wie die seiner Band DAF hatte man zuvor noch nie gehört.
       
   DIR Neues Album von Der Plan: Europa ist ein Punk
       
       Ein flammendes Plädoyer für Europa und die Grundrechte – das ist das neue
       Album „Unkapitulierbar“ des legendären Düsseldorfer Trios Der Plan.