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       # taz.de -- Buch von Daniel Schreiber über Trauer: Die Furcht vor dem Schmerz
       
       > Daniel Schreiber hat einen neuen Essay vorgelegt. Ausgehend von dem Tod
       > des Vaters reflektiert er Trauer, Verlust und das Leben.
       
   IMG Bild: Die Insel der Toten: die Gefängnisinsel San Michele bei Venedig
       
       Eine in Weiß gehüllte Gestalt steht aufrecht auf einem Boot, vor ihr ein
       ebenso verhüllter Sarg, hinter ihr sitzend ein Ruderer. Das Ziel: eine von
       Zypressen bewachsene Felsformation im Wasser. Ein bisschen stellt man es
       sich so vor, [1][wenn Daniel Schreiber] nach San Michele fährt, der
       Friedhofsinsel Venedigs. Statt mit einem Nachen, wie auf Arnold Böcklins
       berühmter Gemäldereihe „Die Toteninsel“, setzt der Autor mit dem Vaporetto
       über, auch einen Leichnam transportiert er nicht. Und doch ist Schreiber in
       Begleitung des Todes.
       
       „Die Trauer um ihn begleitet mich jeden Tag“, schreibt Schreiber recht zu
       Beginn der knapp 144 Seiten seines neuen Buchs. In „Die Zeit der Verluste“
       setzt sich der 1977 geborene Autor mit dem Tod seines Vaters auseinander,
       der nicht plötzlich eintritt, Schreibers Leben, wie er es bis dahin kannte,
       aber unwiederbringlich verändert: „Egal, wie wir uns auf den Tod eines
       geliebten Menschen vorbereiten, […] Verluste rühren tief in uns etwas auf.“
       
       Verdrängtes würde so unweigerlich wiederkehren, schreibt Schreiber weiter
       und verlagert allmählich den individuell erlebten Verlust auf eine
       gesellschaftliche Ebene.
       
       Die Pandemie, der Angriffskrieg auf die Ukraine (neuerdings wieder:
       Nahost), verstärkte Fluchtbewegungen, mit ihnen einhergehender wachsender
       Autoritarismus sowie der wie ein Damoklesschwert über allem schwebende
       Klimawandel: Die Krisen unserer Zeit scheinen sich zu akkumulieren und mit
       ihnen wächst das apokalyptische Denken.
       
       Im Abspann am Ende des Films leben, heißt es bei der Autorin Sheila Heti,
       die Schreiber zitiert, um im nächsten Moment zu fragen, ob es nicht jeder
       Generation gleich gehe. „Ob dieses Lebensgefühl nicht etwas ist, das
       Kulturen zyklisch erfahren, das alle paar Jahrzehnte im Zuge tiefgreifender
       Veränderung über uns kommt“ und uns so geglaubter Gewissheiten beraube.
       
       Vehement würden wir individuell wie gesellschaftlich versuchen an einer
       vermeintlichen Konsistenz festzuhalten, die Schreiber als „Illusion der
       Beständigkeit“ bezeichnet. Diese vermeintliche Stabilität, nach der wir
       heutzutage fast schon krankhaft streben, verhindere, dass wir trauern.
       Dabei sind Verluste so eng mit dem Leben verbunden, dass wir andauernd mit
       ihnen konfrontiert sind: „Wir verlieren Schlüssel, Telefone oder unsere
       Lieblingskleidungsstücke, aber auch unser Herz, unseren Verstand“ oder eben
       „unseren Glauben an die Welt“.
       
       All das sinniert Schreiber, während er als Stipendiat in Venedig verweilt.
       Keine Selbstverständlichkeit für den Sohn zweier Arbeiter*innen, deren
       familiäre Fluchtgeschichten sowie das Leben in der DDR sie fast schon
       befremdlich genügsam werden ließen.
       
       Den elterlichen Wunsch nach einer anonymen Bestattung kann Schreiber kaum
       nachvollziehen, stellt ihn den Prachtgräbern auf der venezianischen
       Friedhofsinsel San Michele gegenüber. Ob dieser sowie der Verzicht seines
       Vaters auf eine lebensverlängernde Chemotherapie nicht auch die Hierarchien
       unserer Kultur widerspiegele, die manches Leben als lebenswerter betrachte
       als anderes, fragt er sich.
       
       ## Furcht vor dem Schmerz
       
       Gedanken wie dieser verirren sich manchmal etwas, wie auch der Autor selbst
       im Gewirr der venezianischen Gassen. Sie münden nicht zwingend in
       definitiven Erklärungen, sondern stoßen an, worüber weiter nachgedacht
       werden möchte. Das ist aber eben Schreibers große Kunst und sicher auch
       Grund dafür, dass sich so viele auf seine Bücher einigen können.
       
       Wie [2][auch schon in „Allein“], [3][„Zuhause“] und „Nüchtern“ schöpft er
       aus eigenen [4][Erfahrungen, um universelle und vor allem menschliche
       Vorgänge] zu beschreiben. Damit reiht er sich in den Kanon internationaler
       Autor*innen wie Didier Eribon, [5][Annie Ernaux], [6][Tove Ditlevsen]
       oder Joan Didion ein, deren autobiografisches Trauerbuch „Das Jahr
       magischen Denkens“ Eingang in Schreibers neuesten Text findet.
       
       Nicht die eigentliche Trauer ist es, vor der wir Angst haben, ist
       vielleicht das Zentrale, was sich aus Schreibers Buch mitnehmen lässt. Denn
       gegen die kann man ohnehin nur wenig ausrichten. Es ist der Schmerz, vor
       dem wir uns fürchten. Doch wie der Schmerz einer Wunde verblasst auch der
       der Trauer, sofern wir ihn annehmen. Nur so können wir mit den Verlusten zu
       leben lernen.
       
       28 Nov 2023
       
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