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       # taz.de -- Theater über Ex-Jugoslawien: Messe der Maßlosigkeit
       
       > Allegorie auf ein gescheitertes Projekt: Oliver Frljićs zitatenreiches
       > Theaterstück „Mass for Jugoslavia“ wurde am Berliner Gorki Theater
       > aufgeführt.
       
   IMG Bild: Gesprochen wird nie: Szene aus „Messe für Jugoslawien“ von Oliver Frljićs
       
       Verhandelt eine Kulturproduktion aus Südosteuropa Vergangenheit oder Krieg,
       ist die Braut ein häufig anzutreffendes Element. Meist ist irgendwas einer
       fröhlichen Hochzeit in die Quere gekommen, und die Braut fungiert als
       traurige, verzweifelte, einsame, verlorene, verwirrte, missbrauchte Figur
       für das gescheiterte Projekt.
       
       In [1][Oliver Frljićs Theaterstück] „Mass for Yugoslavia“ spielt die Braut
       die zentrale Rolle. In dieser Messe, die 2015 zum ersten Mal in Belgrad und
       nun erstmals im Berliner Maxim Gorki Theater aufgeführt wurde, hat die
       Braut eine große jugoslawische Fahne um ihr Kleid gewickelt und verführt
       die Männer, die erst in zivilen Brautanzügen, später in Partisanenuniform
       stecken, und erinnert an das berühmte Gemälde des französischen Malers
       Delacroix, auf dem eine Frau, die für die Freiheit steht, das Volk zur
       Revolution führt.
       
       Der als Enfant terrible geltende Provo-Theatermacher und erfolgreichste
       postjugoslawische Regisseur Oliver Frljic feiert aber natürlich keine
       fröhliche Revolution, sondern thematisiert die Ambivalenz des kulturellen
       und politischen Avantgardismus Jugoslawiens und die Grenzen der Freiheit in
       dem Staat, der das liberalste Experiment im real existierenden Sozialismus
       war.
       
       Jede Szene, jedes Detail in Frljićs Stück zitiert eine berühmte Szene aus
       einem jugoslawischen Film, einer jugoslawischen Performance, einem
       jugoslawischen Roman und spielt mit dieser Reverenz. Selbstverständlich
       betont der Regisseur, man müsse die Anspielungen gar nicht verstehen, um
       dem Stück folgen zu können. Und sicher, Frljić ist ein Großmeister der
       Inszenierung, jede Szene hat das Zeug für ein Gemälde von Delacroix, das
       ganze Stück ist eine Aneinanderreihung von Tableaux vivants und damit ein
       großer Spaß beim Zuschauen. Aber trotzdem, der Spaß ist größer, erkennt man
       die Zitate.
       
       ## Mit dem Zerfall Jugoslawiens fiel auch Regisseur Ristić
       
       Der Titel schon ist eines: Die „Missa in a Minor“ war ein Stück des
       einflussreichsten jugoslawischen Theaterregisseurs, Ljubiša Ristić. Mit dem
       Zerfall Jugoslawiens fiel auch Ristić, er stellte sich [2][auf die Seite
       des serbischen Autokraten Milošević]. Wegen seiner politischen Haltung
       wurde Ristić in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens verdrängt und vergessen.
       
       Am Ende Jugoslawiens wurden der sich gewaltvoll in seine Einzelteile
       auflösende Staat sowie Ristić als dessen Bürger zu ihren eigenen
       Antithesen. Ristić verkörpert für Frljić die Metapher für Jugoslawien
       schlechthin: großes emanzipatorisches und großes destruktives Potenzial
       zugleich.
       
       Dass die Braut eine so große Rolle in Frljićs Stück spielt, ist eine
       weitere Geschichte, die von Größe und Grenze jugoslawischer Kulturpolitik,
       aber auch von der engen Verflechtung von Kunst und Politik in diesem Land
       zeugt: Von der Hochzeit des legendären Theaterregisseurs Ristić mit einer
       Malerin gab es Videoaufnahmen. Diese wiederum wurden in dem berühmten Film
       „Jesus aus Plastik“ aus dem Jahr 1971 gezeigt. Der Film war eine scharfe
       Kritik an der politischen Führung des Landes, einschließlich Tito, und war
       in Jugoslawien verboten.
       
       Als er später wieder auftauchte, war die Szene mit der Hochzeit des
       Theatermachers herausgeschnitten worden. Der Grund: Unter den Gästen der
       Hochzeit waren zahlreiche Mitglieder der jugoslawischen Elite, die nun
       nichts mehr mit dem Skandalregisseur zu tun haben wollte. Der
       Theaterkünstler Ristić wurde also zwei Mal aus der Geschichte gelöscht: das
       erste Mal nahm ihn die Zensur aus dem Bild, das zweite Mal er sich selbst.
       
       ## Jede Szene läuft aus dem Ruder
       
       Frljić nun machte die gelöschte Hochzeitsszene zur Grundlage seines Stücks
       und führt uns vor, wie die Szene hätte aussehen können: mal thront die
       Braut über allen, mal liegt sie unter ihnen, mal ist sie Teil der
       Männerwelt, mal wird sie von ihr verstoßen. Vor allem aber bleibt meistens
       völlig unklar, wer hier gerade wen penetriert, was auch daran liegt, dass
       irgendwann alle Schauspieler als Braut verkleidet sind. Jede Szene läuft im
       Verlauf dieser Messe aus dem Ruder, artet in Orgien, Exzess, Hemmungs- und
       Maßlosigkeit, Gewalt, Tod und Stalinismus aus.
       
       Neben der Allegorie auf das Ende Jugoslawiens, dieses Projekts, das doch so
       vielversprechend anfing, will Frljić hier auch etwas kritisieren, was er
       die „Kusturisierung“ Jugoslawiens nennt. Damit meint er die Art, wie der
       bosnisch-serbische Regisseur Emir Kusturica die Bewohner des Balkans in
       seinen Spielfilmen inszeniert: als zwar primitive, aber dafür das Leben
       umso unverstellter mit Wein, Weib und Gesang verbringende Gesellen, die nur
       ganz nebenbei auch ein bisschen kriminell und gewalttätig sind. Dass
       Jugoslawen, die gerne ausgelassen essen, trinken, tanzen und singen,
       gleichzeitig Massenmörder geworden sind, kommt in Kusturicas Filmen nicht
       vor.
       
       Gesprochen wird in Frljićs Messe für Jugoslawien übrigens kein Wort. Nur
       gesungen, vor allem Partisanenlieder, jugoslawische, italienische,
       spanische, griechische, ungarische. Sie sind, so wie das Grundmotiv des
       ganzen Stücks, hochgradig ambivalent: Es sind liebliche Melodien, zu denen
       wunderschöne Stimmen Texte voller Gewalt singen. Angefangen vom
       mittlerweile zum Partyhit gewordenen „[3][Bella Ciao]“ bis zu einem
       griechischen Lied, das von den heldenhaften „Kindern im Tal“ handelt, die
       die Feinde in tödliche Fallen lockten.
       
       Ganz am Ende dann singt ein Kinderchor eine Version von Nirvanas „Smells
       Like Teen Spirit“ aus dem Jahr 1991. Von der ersten Zeile – „Load up on
       guns. Bring your friends“ bis zum Refrain „Here we are now, entertain us“
       wirkt der als Choral aus lieblichen Kinderstimmen gesungene Song, als wäre
       er von der Endzeitstimmung und dem Überdruss in Jugoslawien 1991 zu Beginn
       der blutigen Zerfallskriege inspiriert gewesen.
       
       Die Chorversion stammt aus einer HBO-Doku über Kurt Cobain, an der auch
       dessen Tochter mitwirkte. Sie wollte damit die „Mythologisierung und
       Romantisierung“ ihres Vaters relativieren und ihn zugleich als
       außerordentlichen Künstler würdigen. Genau das könnte auch Frljić über
       seine „Messe für Jugoslawien“ sagen.
       
       23 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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