URI: 
       # taz.de -- Lech Wałęsa gewinnt in Straßburg: Desaster für die polnische Justiz
       
       > Nach dem EGMR-Urteil zugunsten von Wałęsa muss Polen sein mangelhaftes
       > Gerichtswesen in Ordnung bringen. Er hatte gegen die Republik Polen
       > geklagt.
       
   IMG Bild: Der Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa, hier bei einer Demonstration im Juli in Warschau
       
       Warschau taz | [1][Lech Wałęsa], der einstige
       Solidarność-Gewerkschaftsführer, Friedensnobelpreisträger und Präsident
       Polens, hat vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in
       Straßburg seinen Prozess gegen die Republik Polen gewonnen. Die Richter
       bestätigten am Donnerstag die Vorwürfe des Klägers. Der polnische Staat
       habe Wałęsa nicht nur das Recht auf einen fairen Prozess, sondern auch das
       Recht auf seine Privatsphäre verweigert. Die Gründe für diese Verfehlungen
       seien in einem mangelhaft strukturierten Gerichtswesen zu suchen.
       
       Dies habe es der Staatsführung (unter der nationalpopulistischen
       Morawiecki-Regierung, Anm. d. Autorin) ermöglicht, politische Ziele auf dem
       Gerichtswege durchzusetzen. Das Gericht sprach Wałęsa 30.000 Euro
       Entschädigung zu. Zugleich forderte es die Regierung Polens auf, [2][die
       Missstände im Gerichtswesen] unverzüglich zu beheben.
       
       Zbigniew Ziobro, bis Ende 2023 Generalstaatsanwalt und Justizminister in
       einer Person, hat als Hauptschuldiger das „mangelhafte Gerichtswesen in
       Polen“ zu verantworten. Er kommentierte das Straßburger Urteil [3][auf der
       Plattform X]: „Der EGMR wollte Lech Wałęsa so sehr vom Vorwurf der
       Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst (SB) freisprechen, dass
       er selbst das Recht und die Europäische Menschenrechtskonvention gebrochen
       hat.“ Unter den urteilenden Richtern des EGMR müsse auch einer aus dem
       beklagten Staat sein. „Aber“, so Ziobro weiter, „statt eines Polen wählte
       man einen Griechen, so dass niemand das Femegericht daran hindern können
       sollte, Polen schuldig zu sprechen.“
       
       Dass der polnische Richter sich vor der Urteilsverkündung selbst
       zurückgezogen hatte, erwähnte Ziobro nicht. Der griechische Richter, der
       kurzfristig für den Polen einsprang, musste sich unter großem
       Arbeitsaufwand erst in die schwierige Materie einarbeiten, bevor er am
       Urteil mitwirken konnte.
       
       ## PiS hält das Urteil für rechtswidrig und nicht verpflichtend
       
       „Das heutige Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes ‚Wałęsa
       gegen Polen‘ ist rechtswidrig und hat keine verpflichtende Kraft“, hieß es
       noch einen Ton schärfer auf der Website des von Ziobro geleiteten
       Justizministeriums. „Der EGMR negiert ohne jede Grundlage die Legalität des
       Landesjustizrates (KRS) und des Obersten Berufungsgerichts in Polen, bricht
       aber selbst die Regeln des internationalen Rechts“.
       
       Der Landesjustizrat, den Ziobro so sehr verteidigt, ist [4][das Kernproblem
       des polnischen Gerichtswesens]. 2018 hatte die nationalpopulistische Recht
       und Gerechtigkeit (PiS) den alten Landesjustizrat (KRS) aufgelöst und durch
       ein politisches Organ ersetzt, das ebenfalls „Landesjustizrat“ genannt
       wurde. Das Richtergremium entschied bis 2018 als ein unabhängiges Gremium
       der Judikative über Neubesetzungen von Richterstellen an allen Gerichten
       Polens. Die PiS entließ widerrechtlich alle dort arbeitenden Richter und
       schuf einen „Neo-Landesjustizrat“, wie ihn die demokratische Opposition
       nannte, in dem durch ein ausgeklügeltes Entsende- und Wahlverfahren
       politischer Institutionen fast nur noch PiS-loyale Richter saßen.
       
       Diese setzten dann „Neo-Richter“ auf die freiwerdenden Richterstellen. Da
       diese aber laut polnischer Verfassung keine korrekt ernannten Richter sind,
       kann jedes Urteil angefochten werden, an dem ein solcher „Neo-Richter“
       beteiligt war. Die inzwischen über 3.000 Neo-Richter dürften bereits
       hunderttausende Urteile gefällt haben. Viele Prozessverlierer klagen nun –
       durchaus mit Aussicht auf Erfolg – vor dem Straßburger EGMR.
       
       Ziobro und Polens Präsident Andrzej Duda hatten sich aber bereits 2017 ein
       „Sonderüberprüfungsrecht“ ausgedacht, das es Ziobro ermöglichte, das
       rechtskräftige Urteil in einem Verleumdungsprozess anzufechten, den Lech
       Wałęsa 2011 gewonnen hatte. Hier kam nun die von Ziobro angerufene „Kammer
       für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ am
       Obersten Berufungsgericht ins Spiel. Die „Neo-Richter“ dieser Kammer hoben
       das rechtskräftige Urteil auf, so dass Wałęsa erneut öffentlich als
       „[5][Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes]“ verleumdet werden konnte.
       
       Der EGMR qualifizierte dies als politische Justiz und forderte die Republik
       Polen auf, die Missstände im polnischen Gerichtswesen umgehend abzustellen
       und zu korrigieren. Dies wird nun Aufgabe [6][der künftigen Regierung
       sein], die anders als Ziobro das Straßburger Urteil anerkennt und dessen
       Forderungen umsetzen will.
       
       24 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Lech-Wasa-wird-80/!5963175
   DIR [2] /Disziplinierung-der-Justiz-in-Polen/!5652033
   DIR [3] https://twitter.com/ZiobroPL/status/1727745628581552353
   DIR [4] /Polnische-Regierung-wehrt-sich/!5787048
   DIR [5] /Vergangenheitsbewaeltigung-in-Polen/!5276489
   DIR [6] /Parlamentswahl-in-Polen/!5963777
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
   DIR Polen
   DIR Solidarnosc
   DIR Straßburg
   DIR EGMR
   DIR PiS
   DIR Polnische Justizreform
   DIR Justizreform
   DIR Polen
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Polen
   DIR Polen
   DIR Hassrede
   DIR Kolumne Fernsicht
   DIR Polen
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Polen
   DIR Polen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Polens Justizminister in Freiburg: Mühsame Rückkehr zum Rechtsstaat
       
       An der Uni Freiburg sprach Polens Justizminister Adam Bodnar über die
       Rückabwicklung der PiS-Justizreform. Doch noch gibt es dabei Hemmnisse.
       
   DIR Abtreibungsrecht in Polen: Polen unterliegt in Straßburg
       
       Der Menschenrechtsgerichtshof erklärte Polens Abtreibungsgesetz für
       unwirksam. Drei Richter waren 2015 illegal eingesetzt worden.
       
   DIR Regierungsbildung in Polen: PiS scheitert im Parlament
       
       Polens Parlament verweigert rechtsnationalistischer Regierung die Mehrheit.
       Das Verfassungstribunal erklärt EU-Zwangsgelder für verfassungswidrig.
       
   DIR Polen nach den Wahlen: Mühsam zurück zum Rechtsstaat
       
       In Polen wirken die PiS-Nationalpopulisten auch nach dem Wahlsieg der
       liberaleren Koalition weiter. Sie besetzen Schlüsselpositionen im ganzen
       Land.
       
   DIR Hassrede nach Vergewaltigungsprozess: Die standhafte Richterin
       
       Die Hamburger Jugendrichterin Anne Meier-Göring wird seit Dienstag im
       Internet mit Hass überschüttet. Dabei ist sie mutig und klug.
       
   DIR Rechtsstaat in Polen: Zwischen Populismus und Demokratie
       
       Die PiS-Partei verhielt sich in ihrer vergangenen Regierungszeit alles
       andere als demokratisch. Entscheidend ist, dies nun juristisch zu ahnden.
       
   DIR Trotz Wahlsiegs der Opposition: Polens neue Zwei-Wochen-Regierung
       
       Die neue PiS-Regierung hat keine Chance, die Vertrauensabstimmung im
       Parlament zu überstehen. Dennoch hat Präsident Duda sie vereidigt.
       
   DIR US-Präsident in Polen: Biden zeigt die Zähne
       
       Der US-Präsident erinnert in Warschau daran, dass die Nato mit
       demokratischen Werten verbunden ist. Der Artikel 5 sei ihm „heilige
       Verpflichtung“.
       
   DIR Kommentar Unabhängigkeitstag Polen: Arm in Arm mit Antidemokraten
       
       Regierung und Rechtsradikale feiern gemeinsam den 100. Unabhängigkeitstag
       Polens. Das ist eine Katastrophe für die polnische Demokratie.
       
   DIR Vergangenheitsbewältigung in Polen: Spitzelvorwürfe gegen Lech Wałęsa
       
       Der polnische Ex-Präsident soll für den kommunistischen Geheimdienst
       gearbeitet haben. Er bestreitet das: Eine angebliche Personalakte sei
       gefälscht.