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       # taz.de -- EU-Asylpolitik: Neue Steine für die Festung Europa
       
       > Die EU-Institutionen einigen sich auf eine Verschärfung des Asylrechts.
       > Wenige Monate vor der Europawahl stehen die Zeichen weiter auf
       > Abschottung.
       
   IMG Bild: Zukünftig soll sich der Zugang zum europäischen Asylsystem für Geflüchtete, hier in der italienischen Hafenstadt Salerno, ändern
       
       BRÜSSEL taz | Sechs Monate vor der Europawahl haben sich Unterhändler des
       Europaparlaments, der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission auf eine
       [1][umstrittene Reform der Asylpolitik geeinigt]. Kommissionspräsidentin
       Ursula von der Leyen sprach von einer „historischen Einigung“.
       
       Mit dem Deal, der am Mittwochmorgen nach zweitägigen Verhandlungen hinter
       verschlossenen Türen in Brüssel vereinbart wurde, will die EU die
       „irreguläre“ Migration eindämmen, aber auch Rechtspopulismus einen Riegel
       vorschieben. Kritiker sagen, sie übernehme damit die Politik der Rechten
       und vergreife sich am Asylrecht.
       
       Künftig sollen Asylverfahren bereits an den EU-Außengrenzen stattfinden, um
       Flüchtlinge mit geringen Aufnahmechancen an der Weiterreise zu hindern. Für
       die Grenzverfahren sollen geschlossene Lager geschaffen werden, betroffen
       sind auch Familien mit Kindern.
       
       Die Bundesregierung wollte begleitete Kinder aus humanitären Gründen von
       den Grenzverfahren ausnehmen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Staaten
       mit besonders hohem „Migrationsdruck“, wie Italien oder Griechenland,
       hatten auf den harten Regeln bestanden.
       
       ## Das EU-Parlament zog den Kürzeren
       
       Auf Drängen der osteuropäischen Staaten wurde zudem eine Krisenverordnung
       beschlossen, mit der die Regeln weiter verschärft werden können. Sie soll
       greifen, wenn Migranten „instrumentalisiert“ werden. Dies hat die EU
       zunächst der Türkei, zuletzt auch Russland vorgeworfen.
       
       Mit den neuen Regeln, die auch eine lückenlose Erfassung der Migranten und
       Abschiebungen in „sichere Drittstaaten“ vorsehen, werde eine Lücke
       geschlossen, sagte Kommissionsvize Margaritis Schinas. Nach der Coronakrise
       und dem Ukrainekrieg stelle sich die EU nun auch der Migration.
       
       Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einem „ganz wichtigen“ Beschluss. Die
       Reform sei ein Schlüssel, „um Migration zu steuern und zu ordnen,
       humanitäre Standards für Geflüchtete zu schützen und die irreguläre
       Migration zu begrenzen“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Scholz
       und Faeser hatten im Frühsommer den Weg für eine Einigung frei gemacht. Sie
       nahmen ihre Vorbehalte gegen die nun beschlossenen Grenzverfahren
       weitgehend zurück, sodass sich die EU-Innenminister auf eine gemeinsame
       Position einigen und in die Verhandlungen gehen konnten.
       
       Seither ruhten alle Hoffnungen auf dem Europaparlament. Die EU-Abgeordneten
       sollten verhindern, dass auch Kinder in geschlossene Lager geschickt
       werden, hieß es in Berlin. [2][Dies war vor allem den deutschen Grünen
       wichtig], die die Reform lange abgelehnt haben. Doch am Ende zog das
       Parlament den Kürzeren. Selbst in der Fraktion der Grünen unterstützten
       nicht alle den deutschen Wunsch. Eine große Koalition aus Konservativen,
       Sozialdemokraten und Liberalen gab in Brüssel den Ton an, auch die
       rechtskonservative EKR mischte eifrig mit.
       
       ## Unsolidarischer Solidaritätsmechanismus
       
       Die Abgeordneten konnten zwar noch einige kleine Verbesserungen
       durchsetzen. So sollen alle Asylbewerber, die in ein ordentliches Verfahren
       kommen, einen Anspruch auf Rechtsberatung bekommen. Unbegleiteten Kindern
       will die EU mit einer besonderen Betreuung helfen.
       
       Als Erfolg gilt auch, dass ein sogenannter Solidaritätsmechanismus
       eingeführt wird. „Erstmals werden nun die EU-Mitgliedstaaten zu Solidarität
       verpflichtet“, sagt Außenministerin Annalena Baerbock. „Damit steigen wir
       endlich in eine europäische Verteilung ein.“
       
       Allerdings können sich unwillige Staaten von der Aufnahme von Migranten
       freikaufen, indem sie 20.000 Euro pro Kopf als „Kompensation“ in die
       EU-Kasse zahlen. Zudem sollen auch andere „Leistungen“, etwa Unterstützung
       beim Migrationsmanagement in Drittstaaten, angerechnet werden.
       
       Somit bleibt fraglich, ob die Reform tatsächlich mehr Solidarität bringt.
       Grüne und Linke fürchten, dass die EU-Staaten am Ende mehr in Abschottung
       investieren, anstatt mehr Migranten aufzunehmen. Die „Festung Europa“
       könnte so noch hermetischer werden. „Die Reform wird nicht das gewünschte
       Ergebnis bringen“, warnt [3][die Europaabgeordnete Terry Reintke von den
       Grünen]. Stattdessen würden Grenzverfahren und Inhaftierung „großes
       menschliches Leid und immense Probleme bei der Umsetzbarkeit für die
       Mitgliedstaaten“ mit sich bringen.
       
       ## Bis die Reform greift, dauert es noch lange
       
       „Der heutige Tag ist ein historischer Kniefall vor den Rechtspopulisten in
       der EU“, sagt Cornelia Ernst von der Linken. Das Parlament sei „zum
       Fußabtreter der Mitgliedstaaten“ geworden und habe „die massivste
       Verschärfung des Asylrechts seit Gründung der EU“ ermöglicht.
       
       Die Abgeordneten hätten den Deal zwar noch platzen lassen können. Bis zur
       Europawahl bleibt genug Zeit, EU-Gesetze können noch bis Mitte März
       verabschiedet werden. Doch am Ende wurde der Druck wohl zu groß. [4][Der
       spanische Ratsvorsitz] wollte unbedingt einen Deal vor Weihnachten. Nun
       können die EU-Politiker Vollzug melden und die „frohe Botschaft“ über die
       Einigung unter die Bürger bringen. Ob sie die gewünschte Wirkung bei der
       Europawahl zeigt, ist jedoch fraglich. Von einem Konsens ist die EU immer
       noch weit entfernt; Ungarn hat schon Widerstand angekündigt.
       
       Zudem dürfte noch einige Zeit vergehen, bis die Reform tatsächlich greift.
       Die insgesamt fünf Verordnungen treten nämlich erst 24 Monate nach der noch
       fehlenden Verabschiedung im Frühjahr 2024 in Kraft – also nicht vor 2026.
       Dann ist die Europawahl längst gelaufen.
       
       20 Dec 2023
       
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   DIR Eric Bonse
       
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