URI: 
       # taz.de -- Immer mehr Abschiebungen in Hamburg: „Es trifft vor allem Familien“
       
       > Hamburgs rot-grüner Senat schiebt immer mehr Asylsuchende ab. Anders als
       > in Berlin soll es einen humanitären Abschiebestopp im Winter nicht geben.
       
   IMG Bild: Wäre in Berlin womöglich nicht passiert: Familie bei ihrer Abschiebung im November 2015 auf dem Flughafen Leipzig-Halle
       
       Hamburg taz | In Hamburg hat sich die Zahl der abgeschobenen Personen vom
       zweiten auf das dritte Quartal 2023 mehr als verdoppelt: 104 Menschen
       mussten gezwungenermaßen das Land verlassen. Darunter waren 19
       schulpflichtige Kinder – fast das Zehnfache der Zahl aus dem ersten Quartal
       des Jahres. Das ergab eine Kleine Anfrage der Hamburger Linksfraktion. In
       den Antworten des Senats nicht mitgezählt werden Menschen, die Hamburg mehr
       oder minder „freiwillig“, also nach Aufforderung der Behörden, verlassen
       haben.
       
       In den Augen der Linksfraktion ist die Politik der übereifrigen
       Abschiebungen Ausdruck einer flüchtlingsfeindlichen Stimmung nicht nur in
       Hamburg. Die migrationspolitische Sprecherin, Carola Ensslen, ist
       erschüttert über das Ausmaß der „Abschiebebegeisterung“, die besonders
       geflüchtete Familien aus den [1][Westbalkanstaaten] treffe.
       
       „Die Situation in den Herkunftsländern verschärft sich in den Wintermonaten
       zusätzlich“, sagt Ensslen. „Viele Geflüchtete werden sehenden Auges
       Diskriminierung, Marginalisierung und Obdachlosigkeit ausgesetzt.“
       
       Die Linke fordert die Hamburger Bürgerschaft, wie schon in vergangenen
       Wintern, auf, einen humanitären Winterabschiebestopp zu verhängen – doch
       ohne Erfolg. Das einzige Bundesland, das dieses Jahr [2][einen
       Winterabschiebestopp verhängt hat], ist Berlin.
       
       Die Linksfraktion kritisiert besonders unangekündigte Abschiebungen und
       solche von Kindern und Jugendlichen aus dem laufenden Schulbetrieb. Seit
       den Verschärfungen des Asylrechts im Jahr 2015 und den stetigen weiteren
       [3][Verschlechterungen der rechtlichen Situation Schutzsuchender] haben die
       Ausländerbehörden solche Praktiken als Standard etabliert. So werden Kinder
       und Jugendliche von heute auf morgen ihrem Umfeld und ihren Freundeskreisen
       entrissen.
       
       Dabei ist die Lebenssituation schutzbedürftiger Minderheiten wie Rom*nja,
       Ashkali und Goran*innen vor allem in den Westbalkanstaaten oft
       existenziell bedroht. Die Linksfraktion weist in ihrem Antrag darauf hin,
       dass dorthin Abgeschobene zum Teil kaum Zugang zu Krankenversorgung,
       Arbeitsmarkt, Schulbildung und Wohnraum haben.
       
       Ein weiterer Risikofaktor sei die Energiekrise. Etwa in [4][Moldau] träfen
       die Preissteigerungen besonders die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu denen
       Minderheiten gehören. Eine humanitäre Zwischenlösung nach dem Berliner
       Vorbild sei auch in Hamburg dringend nötig, fordert Ensslen.
       
       Doch wieso ist, was in Berlin klappt, in Hamburg offenbar undenkbar? Kazim
       Abaci, Fachsprecher für Geflüchtete der SPD-Fraktion, verweist dazu auf die
       Rechtsstaatlichkeit der Abschiebevorgänge: „Rückführungen fußen auf
       rechtsstaatlichen Verfahren, die saisonunabhängig für jeden Fall
       individuelle Gefahren berücksichtigen“, sagt er auf Nachfrage der taz. „Die
       Menschen, deren Aufenthalt nicht rechtens ist, müssen zurückkehren, damit
       Schutzsuchende mit berechtigtem Asylanspruch aufgenommen werden können.“
       
       Aktivist:innen kritisieren diese „Saisonunabhängigkeit“ scharf. Wiebke
       Judith, die rechtspolitische Sprecherin der Organisation Pro Asyl, sagt:
       „Man braucht nur wenig Anstand, um zu erkennen, dass Abschiebungen
       besonders im Winter gesundheitsgefährdend oder gar lebensgefährlich sein
       können.“ Vor allem dann, wenn man davon ausgehen müsse, dass Menschen bei
       teils eisigen Temperaturen in ihren Herkunftsländern keine angemessene
       Unterkunft finden.
       
       Auch die Linksfraktion überzeugt das von der SPD angeführte Argument der
       Rechtsstaatlichkeit nicht. Zudem gebe es ja eine Lösung, die ebenfalls
       rechtsstaatlichen Kriterien entspreche, sagt Ensslen. Diese finde sich im
       Aufenthaltsgesetz, das die Zuwanderung in Deutschland regelt. So kann „die
       oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen
       anordnen, dass die Abschiebung in bestimmte Staaten für längstens drei
       Monate ausgesetzt wird“. So steht es in Paragraf 60a, Absatz 1 des
       Gesetzes.
       
       ## Winterlicher Abschiebestopp für drei Monate
       
       Auf dieser Grundlage hat auch Berlin den winterlichen Abschiebestopp
       verhängt. Für drei Monate, mit einer Verlängerung auf bis zu sechs Monate,
       könnte für Gruppen, deren Herkunftsländer von kalten Temperaturen
       gezeichnet sind, Abschiebungen gestoppt und so Familien vor einem
       existenzbedrohenden Winter geschützt werden.
       
       Abgesehen vom Leid der Betroffenen habe die aggressive [5][Stimmungsmache
       gegen Geflüchtete] noch einen anderen negativen Effekt, sagt Ensslen:
       „Jegliche Form von migrationsfeindlicher Politik stärkt die AfD“, warnt
       die Linkenabgeordnete. Die menschenfeindliche Asylpolitik der
       Bundesregierung, die sich zuletzt in der Reform des Gemeinsamen
       Europäischen Asylsystems (GEAS) niederschlug, stärke den Aufwärtstrend der
       Rechten.
       
       21 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Westbalkan-Gipfel-der-EU/!5980314
   DIR [2] /Winterabschiebestopp-in-Berlin/!5976061
   DIR [3] /Verschaerfung-fuer-Gefluechtete/!5965501
   DIR [4] /Einstufung-von-Georgien-und-Moldau/!5953378
   DIR [5] /CDU-und-Zahnbehandlungen-fuer-Gefluechtete/!5959412
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Neele Fromm
       
       ## TAGS
       
   DIR Hamburg
   DIR Berlin
   DIR Abschiebung
   DIR Abschiebung Minderjähriger
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR IG
   DIR Geflüchtete
   DIR Kurden
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Abschiebung
   DIR Asyl
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Protest gegen Geflüchtetenunterkunft: Gegenüber wohnen Wutbürger
       
       Das Stadt Hamburg prüft, ob in einem Altbau besonders schutzbedürftige
       Geflüchtete unterkommen können. Anwohner*innen fühlen sich übergangen.
       
   DIR Tod in der Geflüchtetenunterkunft Kusel: Niemand will schuld sein
       
       Der kurdische Geflüchtete Hogir Alay soll Suizid begangen haben, sagen
       Behörden. Freund*innen und Angehörige sind skeptisch und fordern
       Veränderung.
       
   DIR Asylgesetze in der EU und Frankreich: Die Mitte ist rechts
       
       Das politische „Zentrum“ macht sich zum Komplizen des rechten Rands – nicht
       nur beim EU-Asylrecht. Das hat systemische Gründe.
       
   DIR Deutsche Migrationspolitik: Fix einbürgern, schnell abschieben
       
       Die Ampel einigt sich auf neue Gesetze für Einbürgerungen und
       Abschiebungen. Im Januar kann der Bundestag sie beschließen.
       
   DIR Abschiebung einer Familie in Schwerin: Mit dem Rammbock ins Kirchenasyl
       
       In Schwerin hat die Polizei am Mittwoch das Kirchenasyl gebrochen. Beim
       Abschiebeversuch zweier Afghanen eskalierte die Situation.
       
   DIR Neues EU-Asylrecht: Schnell einsperren, dann abschieben
       
       Schnellverfahren an den Grenzen, internierte Kinder, direkte Abschiebungen:
       Was sieht die Asyleinigung der EU vor?