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       # taz.de -- Europäische Filmpreise in Berlin: Einander zuhören und verstehen
       
       > Bei den diesjährigen Europäischen Filmpreisen wurde Justine Triets mit
       > gleich fünf Preisen geehrt. Die Filme spiegelten auch die europäische
       > Krise.
       
   IMG Bild: Justine Triet erhielt für ihren Film „Anatomie eines Falls“ fünf Preise
       
       Typisch europäisch gibt es nicht, zu viele Länder müssten man dafür in
       einen Topf werfen. Dennoch versuchen die Mitglieder der Europäischen
       Filmakademie jedes Jahr genau das: Filme zu finden, die den gesamten
       Kontinent bewegen.
       
       Doch in der Diversität, vielleicht auch in Streit und Krise steckt eine
       Chance, jedenfalls für Kulturschaffende: „Zum Glück haben wir Filme, mit
       denen wir uns ausdrücken können“, so umschrieb es die polnische Regisseurin
       und Präsidentin der EFA, [1][Agnieszka Holland], bei der Verleihung des
       Europäischen Filmpreises am Samstag in ihrer Begrüßungsrede.
       
       Und „wir haben Kollegen und Mitglieder auf allen Seiten“, ergänzte der
       EFA-Vorstandsvorsitzende Mike Downey, „und wollen ein Ort in Europa sein,
       an dem man reden, zuhören und versuchen kann, einander zu verstehen.“
       
       Im Zuhören konnte man sich schon gut üben: Die Preisgala, die jährlich
       abwechselnd in Berlin (als Gründungsort der Akademie) und einer
       europäischen Stadt ausgerichtet wird, nahm sich traditionell eine Menge
       Zeit. Um kurz vor 23 Uhr wurde [2][Justine Triets „Anatomy of a Fall“ zum
       European Film 2023] und damit – nach Beste Regie, Bestes Drehbuch, Beste
       Schauspielerin und Beste Montage – mit dem fünften Preis an diesem Abend
       ausgezeichnet.
       
       ## Großartiges Gerichtsdrama
       
       Triets Film ist ein großartig gespieltes Gerichtsdrama um (verunfallten,
       suizidalen, oder herbeigeführten?) den Tod eines Mannes, dessen Gattin
       (Sandra Hüller) beschuldigt wird, ihn umgebracht zu haben. Misogynes
       Misstrauen gegenüber einer scheinbar „kalten“ Frau spielt genauso eine
       Rolle wie Eifersucht zwischen den als Romanautoren unterschiedlich
       erfolgreichen Eheleuten.
       
       „Ich wollte den Zerfall einer Beziehung untersuchen und habe viel von
       meinen eigenen Erfahrungen hineingesteckt“, erklärt Triet, die das Buch mit
       ihrem Ehemann Arthur Harari schrieb. „Ich lebe aber noch, ganz sicher!“,
       beruhigte Harari per Video zugeschaltet von der Leinwand der Treptower
       Arena.
       
       Dass Sandra Hüller in der Schauspielkategorie gegen sich selbst antrat,
       weil sie auch für ihre Rolle als Hedwig Höss in „The Zone of Interest“
       nominiert war, verwundert nicht: Hüller kann alles, und das mit Grandezza
       und Selbsttreue.
       
       Dennoch hätte man Jonathan Glazers überragendem, mehrfach nominiertem Film,
       der das Leben des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss an der Mauer zum KZ
       beschreibt, mehr als den verdienten Preis für den besten Sound gewünscht.
       Denn in der fiktional-filmischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust gab
       es bislang kein Werk, das so konsequent die Opfer schützt und dabei so sehr
       berührt. Glazers Entscheidung, die Pein der Leidtragenden allein über die
       Tonebene zu erzählen, ist fast eindringlicher als Bilder von
       (fiktionalisierten) Opfern – Ton wirkt unmittelbarer als Bild.
       
       ## Katastrophe und Streit
       
       Die Regisseurin des körperpolitischen und feministischen
       [3][Dokumentarfilmgewinners „Smoke Sauna Sisterhood“, Anna Hints,] brachte
       das Publikum mit einem Call-and-Response-Lied zum Mitsingen. Auch der Prix
       Fipresci der internationalen Filmkritik ehrte einen feministischen Film: In
       „How to Have Sex“ findet Regisseurin Molly Manning Walker authentische
       Bilder für Diskurse um Deutungshoheit und die Definition von sexuellen
       Übergriffen.
       
       Und auch das ist typisch europäisch: „We bonded over a piece of Brecht“,
       sagte EFA-Vorstand Downey ernst in seiner Laudatio auf den ungarischen
       Ehrenpreisempfänger Béla Tarr, während dessen schwarzweiße Bilder über die
       Leinwand liefen. Lustig ist es wahrlich gerade nicht in Europa. Dafür
       stehen fast sämtliche nominierten Filme: In der Vergangenheit liegt die
       Katastrophe, in der Gegenwart der Streit. Immerhin – gemeinsam feiern ging
       später doch noch ganz gut.
       
       10 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
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