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       # taz.de -- Dating per App: Virtuelle Komfortzone
       
       > Dating-Apps schonen das Ego und sorgen für regelmäßigen Dopamin-Kick.
       > Verloren gegangen ist dabei die Fähigkeit, sich auf das Ungewisse
       > einzulassen.
       
   IMG Bild: Swipe, date, repeat: Digital regelt
       
       Im August saß ich mit Johann an der Elbe. Johann, der eigentlich anders
       heißt, betreibt ein hippes Café in Dresden. Ich hatte bei ihm bestimmt
       schon 20 Espressi bestellt, als wir eines Abends ein Match auf Tinder und
       ein paar Tage später ein Date hatten. Ob er mich auch in seinem Café nach
       einem Treffen gefragt hätte, wollte ich wissen. „Nee“, sagte Johann. „Das
       fände ich komisch.“
       
       Dass wir eine App brauchten, um uns zu treffen, obwohl wir mehrfach
       miteinander gesprochen und einander zugelächelt hatten: Das war seltsam.
       Und gleichzeitig so normal, seitdem sich mit Tinder, [1][Bumble] und Co die
       Suche nach dem nächsten Date von den Bars, Tanzflächen und Freundeskreisen
       auf die Handybildschirme verlagert hat.
       
       Laut Umfragen haben knapp zwei Drittel der Deutschen schon einmal eine
       Dating-App benutzt. Vor allem die Generationen Y und Z sind online auf der
       Suche. Eine andere Person einfach so ansprechen? Für viele junge Menschen
       mittlerweile undenkbar. Oft genug habe ich einen Mann im Club oder im Café
       gesehen und mich danach auf der Suche nach ihm durch Bumble gewischt. Weil
       da doch jeder ist. Weil ein getipptes „Hi“ so viel leichter fällt als ein
       gesprochenes. Und weil ich das Gefühl hatte, einfach noch mehr über ihn
       wissen zu müssen. Wenigstens, ob er Single ist. Gern, welche Partei er
       wählt. Wer nicht passt, wird aussortiert. Das nächste Match kommt bestimmt.
       Oder wie es die israelische Soziologin Eva Illouz einmal formulierte:
       [2][„Emotionale Entscheidungen werden am Fließband getroffen.“]
       
       Was dabei verloren geht, ist die Fähigkeit, sich einzulassen. Nicht auf
       eine Beziehung, sondern auf alles Ungewisse, was mit einer neuen Begegnung
       einhergeht. Wie spricht der Mensch mit dem interessanten Gesicht? Was sind
       sein Job, seine Leidenschaften, seine Lieblingsband? Gefällt mir das alles
       und gefalle ich ihm auch? Treffe ich jemandem von einer App, sind solche
       Fragen oft schon geklärt, das Date ein Abgleich dessen, was man erwartet
       hat. So haben sich viele junge Leute seit Tinder – das 2012 [3][den Urknall
       des App-Datings in Deutschland ausgelöst hatte] – in einer virtuellen
       Komfortzone eingerichtet, in der sie die Kommunikation unter Kontrolle
       haben und die Scham einer direkten Abfuhr umgehen können.
       
       Das Digitale ist gemütlich und schont das Ego, nimmt aber auch die
       Aufregung des Analogen. Emojis ersetzen Mimik, Kontrolle ersetzt
       Überraschung, Distanz ersetzt Unmittelbarkeit. Und vor allem: Der
       Algorithmus ersetzt den Zufall. Wer nur noch online nach Möglichkeiten
       schaut, übersieht schnell die Begegnungen offline.
       
       Wie oft traf ich Menschen, die ich sofort gedatet, aber auf meinem
       Handybildschirm aussortiert hätte. Weil sie auf den ersten Blick nicht mein
       „Typ“ waren und weil das, was in natura Lust auf mehr macht – eine warme
       Ausstrahlung, ein anziehender Geruch, eine Geste –, sich in keiner App
       entfalten kann. Da können sich die Anbieter mit Sprach- und Videofunktion
       noch so sehr um Authentizität bemühen.
       
       ## So lange wie möglich online halten
       
       Eine App, die sich besonders bemüht, ist Hinge. Sie ist vor allem in der
       Generation Z beliebt und zielt mit dem Werbeslogan „designed to be deleted“
       auf den wunden Punkt derer ab, die das Endlos-Swipen leid sind. Dass das
       ein hohles Versprechen ist, leuchtet ein, sobald man die Logik von
       Dating-Apps versteht. Die Anbieter wollen ihre Nutzer so lange wie möglich
       online halten. So können sie mehr Daten und Umsatz durch Werbung und Abos
       generieren. Deshalb ist es kein Wunder, dass hinter Hinge das gleiche
       US-Unternehmen steckt wie hinter Tinder.
       
       Interessant ist der Hinge-Slogan trotzdem, offenbart er doch das Dilemma
       vieler, die auf Dating-Apps unterwegs sind: Sie sind dort, obwohl sie nicht
       mehr wollen. Doch warum eigentlich? Ganz einfach: Dopamin. Mit jedem Match,
       das wir kriegen, schüttet unser Gehirn Glückshormone aus. Und weil sich das
       so gut anfühlt, wollen wir mehr davon. Bis wir nicht mehr aufhören können.
       Viele versuchen daher den Entzug. Auf Tiktok zählt der Hashtag #datingdetox
       1,2 Millionen Aufrufe, und auch auf Youtube und Instagram berichten User
       zahlreich von ihrem Ausstieg aus der Onlinedating-Spirale.
       
       Wer nicht mehr aufhören kann, verliert nicht nur die Kontrolle über sich
       selbst, sondern auch einen Haufen Zeit. 291 Matches braucht ein Tinder-User
       [4][laut einer Studie der Universität Trondheim in Norwegen] im Schnitt,
       bis er jemanden trifft, mit dem er in einer neuen Beziehung landet. Bis zu
       meiner waren es sicher doppelt so viele. In der Zeit, die ich bis dahin auf
       Apps und ersten Dates mit ihren immer gleichen Unterhaltungen verbracht
       hatte, hätte ich auch einen Master studieren, für einen Marathon
       trainieren, Männer im echten Leben kennenlernen können.
       
       ## Nur einen Wisch entfernt?
       
       Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Der nächste Flirt, der
       nächste Sex, die nächste Beziehung: alles zu haben, vom Bürostuhl aus, der
       Badewanne, dem Bett. Digitalisierung regelt! Doch hat sich so auch in
       vielen Köpfen der Glaube eingebrannt, dass der Mensch, der einem geben
       kann, was man sucht, nur einen Wisch entfernt sei. Und wenn man kein Match
       hat, regelt das die passende Zusatzfunktion, die, na klar, extra kostet.
       Seit Kurzem haben Tinder-Nutzer die Möglichkeit, auch Leute ohne Match
       anzuschreiben. Nicht nur der Preis – fast 500 Euro im Monat – ist absurd,
       sondern auch die Botschaft: Alles ist möglich, jeder verfügbar, immer und
       überall. Selbst, wenn er oder sie nicht will.
       
       Dating-Apps also für immer verbannen? Nein. Aber wenn nur noch der
       Autopilot über den Bildschirm wischt und jedes erste reale Treffen
       Anstrengung statt Aufregung bedeutet, ist es Zeit für eine Pause. Doch
       haben Apps ja auch ihr Gutes: Ohne Tinder wäre ich nie an Johanns Rezept
       für seinen Kirschkuchen gekommen, den ich immer zum Espresso dazubestellt
       hatte. An ein zweites Date kam ich nicht. Obwohl Johann mich zum Abschied
       gefragt hatte, ob wir uns wiedersehen, habe ich nie wieder was von ihm
       gehört. Typisch Tinder.
       
       15 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bumble
   DIR [2] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/liebe-und-partnerschaft/online-dating-liebe-tinder-87384
   DIR [3] /Dating-Portal-Beautifulpeople-gehackt/!5299767
   DIR [4] https://www.iwkoeln.de/studien/barbara-engels-so-viel-kostet-die-suche-nach-der-liebe-beim-onlinedating-per-app.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Catoni
       
       ## TAGS
       
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