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       # taz.de -- Die Wahrheit: Minimalismus zur Mittagszeit
       
       > Der Wahrheit-Ortsbesuch: Das Örtchen Ort im idyllischen Oberbayern ist
       > der Inbegriff aller Siedlungsformen in der ländlichen Region.
       
   IMG Bild: Über die Ortsentlastungsstraße sind schon so manche Autofahrer an Ort vorbeigefahren
       
       Ort – was für ein schöner Name für einen Ort. So knapp, klar und lapidar
       hat noch kein anderer Ortsname die Essenz einer zu Wohnzwecken gebildeten
       Häuseransammlung auf den Punkt gebracht. Mögen sich die Bewohner von
       Schmedeswurtherwesterdeich an der rekordverdächtigen Länge ihres Ortsnamens
       berauschen, mögen sich die Bürger von Hellschen-Heringsand-Unterschaar im
       Glanze ihres Triple-Namen-Ungetüms sonnen oder die Gschlachtenbretzinger
       selbstverliebt durch ihre Gschlachtenbretzinger Altstadt lustwandeln, für
       Freunde des praktischen Minimalismus gibt es nur ein … Ort.
       
       Einer von ihnen ist der Architekt Max Ruf, der den Orter Bürgern die
       Vorteile eines kurzen und betont nüchternen Namens ins Bewusstsein bringen
       möchte. Der dynamische Mittvierziger nimmt sich im Vorfeld der anstehenden
       Bürgermeisterwahl, bei der er als unabhängiger Kandidat antritt, Zeit für
       ein ausführliches Gespräch mit Pressevertretern.
       
       „Schauen Sie, viele Bürger bei uns haben ein gewisses
       Minderwertigkeitsgefühl wegen des in ihren Augen nichtssagenden Ortsnamens.
       Das möchte ich ändern. Was nützt mir ein klangvolles ‚Rothenburg ob der
       Tauber‘ oder ‚Gotthelffriedrichsgrund‘, wenn damit keine substanziellen
       Vorteile verbunden sind. Ich möchte, dass hier ein gesunder
       Lokalpatriotismus Einzug hält und die Bürger das örtliche
       Alleinstellungsmerkmal wieder zu schätzen lernen!“
       
       Bei einem Dorfrundgang zeigt sich: Ruf ist auch als Architekt ein Freund
       der puristischen Formensprache. „Ort hat Besseres verdient als
       pseudo-toskanische Landhaus-Villen oder Doppelhaushälften mit
       überdimensionierten Schnitzbalkonen. Leichtigkeit, Klarheit, Transparenz
       auch beim Hausbau ist das Gebot der Stunde. Würfelform, Dach drauf, Tür und
       Fenster – fertig ist die Laube!“
       
       ## Streit beim Schneeschippen
       
       Beim Bummel durch die idyllische oberbayerische Gemeinde wird deutlich,
       dass der Bürgermeister-Wahlkampf schon an vielen Stellen Spuren
       hinterlassen hat. „Ort darf nicht zum Tatort werden“, verspricht etwa das
       Wahlplakat eines Florian Arnhuber dem besorgten Bürger. Ob sein griffiger
       Slogan zum Thema Verbrechensprävention in einer Gemeinde verfängt, in der
       der letzte größere Polizeieinsatz fünf Jahre zurückliegt – damals war ein
       Nachbarschaftsstreit beim Schneeschippen eskaliert – darf allerdings
       bezweifelt werden.
       
       Max Ruf jedenfalls hält Ort nicht für den allerheißesten Kriminal-Hotspot
       des Oberlands und führt uns für eine erste Stärkung in die Metzgerei
       Wiesinger. Während wir dort köstliche Wurstsemmeln verzehren, haben wir
       Gelegenheit, eine für das deutsche Metzgerhandwerk ungewöhnlich reduzierte
       Produktauswahl zu begutachten. Wo andere Metzger meinen, ihre Kunden mit
       einer unüberschaubaren Vielzahl an Wurstspezialitäten an die Verkaufstheke
       locken zu müssen, greift Metzgermeister Markus Wiesinger zu seiner
       absoluten Geheimwaffe. „Wozu brauch ich Göttinger, Krakauer, Mettwurst oder
       Mortadella? Bei mir gibt es genau eine Wurstsorte – Ortswurst.“
       
       Wie wir nach einer kleinen Probe bestätigen können, ist deren Qualität
       allerdings so gut, dass sich, wie Max Ruf versichert, zur Mittagszeit
       oftmals eine lange Schlange vor der Theke bildet. Metzger Wiesinger ist
       also konsequent den Wurstweg des Orter Minimalismus gegangen und hat ihn in
       seinem Warenangebot perfekt umgesetzt.
       
       An dem einzigen Buswartehäuschen dieser bemerkenswerten Gemeinde entdecken
       wir das Wahlplakat des dritten Kandidaten. Robert Gallbichler von der
       überparteilichen Wählergemeinschaft „Die Örtlichen“ will mit dem
       selbstbewusst-kämpferischen Slogan „Ein Mann, ein Ort“ ins
       Bürgermeisterbüro einziehen. Von Beruf Orthopäde setzt er in seinem
       Wahlkampf einen ganz anderen Schwerpunkt als seine Konkurrenten – nach dem
       Motto: Wählt mich, ich werd es schon richten!
       
       ## Freibier für Wähler
       
       Er will den Zusammenhalt der Einwohnerschaft durch ein monatlich
       stattfindendes „Ortsgespräch“ in einer noch zu gründenden „Ortswirtschaft“
       stärken. Das Versprechen einer Halben Freibier bei diesen Treffen könnte
       dem Wahlvorschlag zwar durchaus zu einigem Zuspruch verhelfen, Architekt
       Ruf hält trotzdem nichts von Gallbichlers populistischer Agenda.
       
       „Da ist viel heiße Luft dabei, aber die wichtigen Fragen unserer Gemeinde
       geht er doch gar nicht an. Wir brauchen gerade in Zeiten knapper Kassen
       einen nachhaltigen Wertewandel hin zu mehr Bescheidenheit. Und wir müssen
       unseren Standortvorteil des ‚Weniger ist mehr‘ stärker ausspielen. Denken
       Sie nur mal an die Druckkosten für Briefköpfe und Adresszeilen amtlicher
       Schreiben, die wir gegenüber Gemeinden mit längerem Ortsnamen über die
       Jahre einsparen können!“
       
       Bevor Max Ruf sich aber zu sehr in den arg nüchternen Details seiner
       Reduktionsstrategie verliert, setzen wir unseren Rundgang fort und kommen
       zu einem efeuumrankten Häuschen, das sich als Domizil des Dichters Jeremias
       Pölz herausstellt. Der vollbärtige Poet begrüßt uns freundlich und bittet
       uns in seinen zugewucherten Garten. Niemand hat das spirituelle Geheimnis
       Orts so dicht verarbeitet wie der „Ortsschreiber“ Pölz, der jetzt mit
       volltönendem Bass seine „Ode an Ort“ rezitiert: „O Ort, du bester aller
       Orte / O Ort, du schönstes aller Worte / Du Hort der wahren Werte / Du
       Zielpunkt meiner Fährte / Und bin ich auch zu Zeiten fort / Mich zieht’s
       zurück, zurück nach Ort.“
       
       Tief bewegt verabschieden wir uns und verlassen das wundersame Dorf über
       die Ortsentlastungsstraße – freuen uns aber auch ein wenig auf die Rückkehr
       in unsere Stadt mit dem etwas längeren Namen.
       
       12 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rüdiger Kind
       
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