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       # taz.de -- John Woos Actionthriller „Silent Night“: Süßer die Glock nie klingt
       
       > John Woo hat mit „Silent Night – Stumme Rache“ einen dialogfreien
       > Actionthriller gedreht. Den Film beherrscht ein Gefühl der Nostalgie.
       
   IMG Bild: Reden kann Brian Godlock (Joel Kinnman) nicht mehr. Aber seine Frau Saya (Catalina Sandino Moreno)
       
       Um 1990 war John Woo der Actiongott. 1990, das ist allerdings nicht nur
       lange her, das ist eine andere Ära, im Kino, aber auch in der Gesellschaft.
       Wenn der nun 77-jährige John Woo mit „Silent Night – Stumme Rache“ noch
       einmal einen Film vorlegt, der roh und hart zu werden verspricht, so zu
       sein verspricht, wie seine Filme um 1990, dann kann das eigentlich nur
       schiefgehen, denn die Zeiten haben sich geändert.
       
       „Heroic Bloodshed“ wurden die Filme genannt, die John Woo um 1990 in
       Hongkong drehte: „A Better Tomorrow“, „The Killer“, etwas später „Hard
       Boiled“, unfassbar brutale, pathetische Actionfilme, in denen übercoole
       Helden in Zeitlupe, mit einer Pistole in jeder Hand, Unmengen von Gegnern
       abknallten, während weiße Tauben durchs Bild flogen. Meist ging es dabei um
       Rache, um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse.
       
       In Hollywood ging es so weiter, vor allem der grandiose „Face/Off“ mit
       einem losgelösten Nicolas Cage in der Hauptrolle zementierte Woos Ruf als
       Genie der Actioninszenierung, auch sein „Mission Impossible: 2“ war noch
       atemberaubend, aber danach war es vorbei. Was vermutlich nicht nur an den
       Flops lag, die Woo im Anschluss drehte, sondern auch am sich wandelnden
       Zeitgeist.
       
       Dass Woo nun, nach 20 Jahren Pause, in denen er an ziemlich patriotischen,
       ziemlich seelenlosen chinesischen Großproduktionen beteiligt war, doch noch
       einmal einen Film in den USA dreht, hat auch mit einem Grundgefühl zu tun,
       das seit einigen Jahren nicht nur die Filmindustrie prägt: Nostalgie.
       
       An neuen, frischen Ideen scheint es zu mangeln, immer neue
       [1][Fortsetzungen von Marvel-Filmen] zu drehen, langweilt inzwischen selbst
       das Publikum, also geht der Blick in die Vergangenheit, in die Zeit, in der
       viele derjenigen, die heute Filme machen oder über sie schreiben, filmisch
       sozialisiert wurden.
       
       ## Kaum ein Wort wird gesprochen
       
       Allein im Actionbereich humpelte der inzwischen 80-jährige Harrison Ford
       durch einen weiteren, jetzt aber (hoffentlich) wirklich letzten
       [2][„Indiana Jones“-Film]; der auch nicht mehr frische – wenn auch mehr
       oder weniger frisch geliftete versprich –[3][Tom Cruise rettete in „Top
       Gun: Maverick“] noch einmal die Welt; nächstes Jahr kommt ein Prequel aus
       der „Mad Max“-Welt der 80er Jahre, nun also John Woo.
       
       Mit einem kleinen, offensichtlich sehr billig produzierten Film, der ein an
       sich gar nicht schlechtes Konzept verfolgt: In „Silent Night“ wird kaum ein
       Wort gesprochen, was mit einem Treffer im Kehlkopf des Helden Brian (Joel
       Kinnaman) begründet wird, verursacht durch Latino-Gangster in Los Angeles,
       die Brians Sohn getötet haben.
       
       Dass seine Frau Saya (Catalina Sandino Moreno) nicht mit ihm redet, wirkt
       schon forcierter, immerhin Textnachrichten werden ein paar geschickt, aber
       dann hat Saya Brian auch schon verlassen. Denn Brians Wunsch nach Rache ist
       unerträglich geworden, unbedingt will er den Gangsterboss Playa (Harold
       Torres) zur Rechenschaft ziehen, was die Polizei nicht kann oder will. Und
       so nimmt er in bewährter „[4][Dirty Harry“]- oder „Ein Mann sieht
       rot“-Manier das Gesetz selbst in die Hand.
       
       ## Wie aus einem anderen Jahrzehnt
       
       Ja, es gibt zwei, drei schöne Actionmomente, auch eine minutenlange
       Kamerafahrt, mit der Woo seinen vielen Epigonen noch einmal zeigt, wer der
       Meister ist, aber was soll man über einen Film sagen, der sich anfühlt, als
       wäre er von 1988? Der jeden Latino als schwerst tätowierten Gangster zeigt,
       die Polizei als komplett unfähig, einen Jedermann, der in Kürze zum
       beinharten Superkiller wird. Im Teenageralter konnte man so etwas
       goutieren, um 1990, als die Welt noch in klare Gut-Böse-Muster eingeteilt
       war, zumindest scheinbar.
       
       Im Jahre 2023 ist die Welt jedoch kompliziert geworden, wirkt eher von
       Graustufen geprägt als von moralischer Klarheit. Ja, es mutet verführerisch
       an, da einen Film zu sehen, der schlicht und simpel daherkommt, der nicht
       mehr sein will als eine Reminiszenz an eine in vielerlei Hinsicht längst
       vergangene Zeit.
       
       Aber am Ende mutet „Silent Night“ dann eben doch nur an wie ein Film aus
       einem anderen Jahrzehnt, einem anderen Jahrhundert. Die Zeiten aber haben
       sich geändert, in der Gesellschaft und auch im Kino. Zum Glück.
       
       13 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Meyns
       
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