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       # taz.de -- Propaganda-Show in Russland: Putin wird an den Eiern gepackt
       
       > Russlands Präsident hält Hof – Jahrespressekonferenz und
       > Bürgerfragestunde in einem. Zu wenige und teure Eier sind ein Thema, das
       > die Menschen bewegt.
       
   IMG Bild: Russlands Präsident Wladimir Putin am 14. Dezember in Moskau
       
       Moskau taz | Nach zwei Stunden kommt sie dann doch, die Frage nach den
       Preisen für Eier. „Wo und wann hat es so hohe Lebensmittelpreise schon
       einmal gegeben? Zehn Eier kosten bis zu 220 Rubel (umgerechnet 2,20
       Euro)!“, empört sich die Rentnerin, die sich dem russischen Präsidenten
       Wladimir Putin als Irina Alexandrowna vorstellt.
       
       Sie sitzt vor ihrer Spitzengardine bei Krasnodar im Süden des Landes und
       schaut fordernd in die Kamera. „Wir bekommen keine Millionen-Rubel-Rente“,
       sagt sie in der großen Pressekonferenz, die in diesem Jahr zusammengelegt
       ist mit dem Format „Direkter Draht“, bei dem sich Russ*innen direkt an
       den Kremlherrscher wenden dürfen.
       
       Eine Show, wie für Putin gemacht: keine gefährlichen Fragen, nur
       ausgesuchte Medienvertreter*innen, vorab eingereichte Anmerkungen. Der
       Präsident schreibt etwas in sein Heftchen, räuspert sich und weiß auf alles
       eine Antwort.
       
       Seit Tagen fluten Fotos und Videos von langen Schlangen die sozialen
       Netzwerke: Menschen stehen quer durchs Land für bezahlbare Eier an. Selbst
       in Moskauer Hochpreis-Lebensmittelläden fehlen sie.
       
       ## Führung an der Front
       
       Während sich der Präsident – gewohnheitsgemäß – für seine „gute Führung an
       der Front, die gute wirtschaftliche Lage im Land“ lobt, schreit Irina
       Alexandrowna ihr Leid fast hinaus: „Haben Sie Mitleid mit den Rentnern,
       sorgen Sie für Ordnung, Wladimir Wladimirowitsch!“
       
       Und „Wladimir Wladimirowitsch“ versucht sich an der Herstellung dieser
       Ordnung. So, wie er es gewohnt ist. Mit Zoten, mit Oberflächlichkeiten. Den
       Landwirtschaftsminister habe er erst kürzlich gefragt, wie es um „seine
       Eier“ stehe, sagt Putin und ist sich der Lacher im Saal sicher.
       
       Die Nachfrage nach Eiern habe eben zugenommen, die Regierung habe es
       versäumt, die Importe zu erhöhen. Auch er haue sich schließlich zehn Eier
       zum Frühstück rein, sagt er flapsig. „Ich entschuldige mich bei Ihnen,
       Irina Alexandrowna, und verspreche, dass sich die Situation zweifellos
       bessern wird.“
       
       Da ist er wieder, der Kümmerer. Genauestens inszeniert, zur besten
       Sendezeit, auf allen Kanälen. Wladimir Putin, der russische Übervater,
       zieht die „Bilanz des Jahres“. So heißt das mehrstündige Mischformat, in
       dem nach einem Jahr Pause und kurz vor den anberaumten
       Präsidentschaftswahlen im März 2024 – mitten im Krieg, den er selbst nicht
       Krieg nennt – alle möglichen Themen angesprochen werden.
       
       ## Immer noch dieselben Ziele
       
       [1][Ziele seiner „militärischen Spezialoperation“] („An Entnazifizierung,
       Entmilitarisierung, dem neutralen Status der Ukraine hat sich nichts
       geändert“), eine mögliche zweite Mobilisierungswelle („Es gibt keine
       Notwendigkeit“), Privilegien für Soldaten, ausbleibende Auszahlungen für
       eben diese, Geld für Drohnen, Instandsetzung von Infrastruktur, hohe
       Nebenkosten, niedrige Renten, fehlende Ersatzteile für Flugzeuge, Besuch in
       den „neuen Regionen“, wie die von Russland besetzten ukrainischen
       Territorien im Land offiziell genannt werden, der Einsatz von KI,
       Abtreibungen, traditionelle Werte. Doch das alles bloß nicht zu kritisch.
       
       Putin gibt eine Art Psychotherapie für alle: Hüstelnd („Die Klimaanlage
       surrt, wissen Sie“), entschlossen („Sagen Sie noch einmal den Ort, ich
       kümmere mich“), selbstsicher („Man muss sich immer selbstbewusst seinem
       Ziel nähern. Ich bin entschlossen“).
       
       Sein Pressesprecher Dmitri Peskow und die beiden Staatsfernsehjournalisten
       Jekaterina Beresowskaja und Pawel Sarubin liefern sich eine Art Wettbewerb,
       wessen Fragen nun eher drankommen, die der russischen Journalist*innen
       aus den Regionen oder der sogenannten einfachen Menschen quer durchs Land.
       Putin sucht lieber selbst aus.
       
       „Nehmen wir den Kollegen aus der Türkei“, sagt er und holt zu Gaza aus.
       „Eine Katastrophe“, sagt Putin, ohne zu sagen, wie Moskau zur Hamas steht
       (Der Kreml hofiert die Terroristen) und wie Moskau darüber denkt, was am 7.
       Oktober 2023 geschehen ist (Den Angriff der Hamas hat der Kreml nie
       verurteilt).
       
       ## Eine kritische Frage
       
       Er holt erst den Journalisten der chinesischen staatlichen
       Nachrichtenagentur, bevor er die Journalistin der New York Times die wohl
       einzige wirklich kritische Frage stellen lässt – zu [2][Evan Gershkovich,
       dem amerikanischen Journalisten mit sowjetischen Wurzeln, der seit März
       dieses Jahres wegen Spionage in russischer Haft ist].
       
       Sie tut das auf Englisch, obwohl sie bestens Russisch spricht und gibt
       Putin so die Gelegenheit, sie absichtlich zu demütigen. Erst gibt sich
       Putin so, als verstehe er nicht, um wen es sich handelt („ein
       Österreicher?“), um sogleich über den „Dialog mit den Amerikanern“ wegen
       eines möglichen Gefangenenaustauschs zu sprechen.
       
       Es ist keine ungewöhnliche Herangehensweise an Offensichtliches. Das Regime
       tut meist so, als bestünde etwas nicht, um dann umso mehr darauf zu
       verweisen, wie vertieft dieses angeblich Nichtbestehende bereits bearbeitet
       wird.
       
       Auch der Krieg – in der Gesellschaft oft als fern empfunden und mit größter
       Gleichgültigkeit hingenommen – wird hier auf eine bizarre Weise als
       Normalität behandelt. Vor allem in der ersten Hälfte der „Bilanz“ drehen
       sich alle Fragen darum. Es geht um Angriffe auf Grenzregionen, medizinische
       Hilfe für die Verwundeten, um patriotische Bildung der Jugend durch die
       zurückgekehrten Kämpfer.
       
       ## Altbekannte Leier
       
       Putin spricht darüber, als würde er übers Wetter erzählen. „Wann gibt es
       Frieden?“, fragt der Moderator Sarubin. „Dann, wenn alle Ziele erreicht
       werden“, sagt [3][Putin] und legt mit seiner altbekannten Leier von „Wir
       waren gezwungen, so zu handeln“ los. „Wir haben nicht die Beziehungen
       verschlechtert.“ Wer dann? „Unsere amerikanischen Freundchen.“
       
       „Warum unterscheidet sich Ihre Realität von unserer Wirklichkeit?“, wird
       derweil an die Wand der Studios im Handelszentrum Gostiny Dwor geworfen.
       Irgendeiner hat diese Frage als SMS in die Sendung geschickt.
       
       In einer anderen Kurznachricht heißt es: „Wie können wir in ein Russland
       umziehen, wie es der Erste Kanal zeigt?“ Darauf weiß auch der Übervater
       keine Antwort. Wie auch, wenn er doch genau in diesem Russland, ein
       schönes, erfolgreiches, inszeniertes Fassadenland lebt.
       
       14 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
       ## TAGS
       
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   DIR Jewgeni Prigoschin
       
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