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       # taz.de -- Wolfgang Seibert vor Gericht: Griff in die Gemeindekasse
       
       > Der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg wurde wegen
       > Untreue verurteilt. Seine jüdische Biografie hatte er erfunden.
       
   IMG Bild: Wolfgang Seibert im Amtsgericht Itzehoe am 07.12.2023
       
       Itzehoe taz | Ein Boxspringbett. Eine Reise zu zweit nach Zürich.
       ADAC-Gebühren und Mitgliedsbeiträge beim FC St. Pauli: Solche Dinge hat
       Wolfgang Seibert von den Konten der Jüdischen Gemeinde Pinneberg bezahlt,
       wie er zugab. Wegen „gewerbsmäßiger Veruntreuung“ von rund 20.000 Euro
       stand der frühere Vorsitzende der Gemeinde vor dem Amtsgericht Itzehoe.
       
       Nach seinem Geständnis verurteilte ihn das Gericht zu einer Freiheitsstrafe
       von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung. Zusätzlich trägt er die
       Verfahrenskosten – und ihm droht eine Zivilklage der Gemeinde, die vor der
       Auflösung steht. Für seine Amtsnachfolgerin bedeutet das Verfahren einen
       Schlussstrich unter dem „großen Durcheinander“, das nach dem Bekanntwerden
       von Seiberts gefälschter Biografie entstand.
       
       Im Aktenschrank standen lauter leere Ordner, Unterlagen der Gemeinde
       tauchten später in einem Keller wieder auf – und es ist „im Lauf der Zeit
       immer schlimmer geworden“, berichtete Sabine B., die nach Seiberts Abgang
       den Vorsitz der Gemeinde übernahm. Nicht nur verwendete Seibert mehrere
       Konten, vor allem waren die Mitgliederzahlen wohl deutlich zu hoch
       angesetzt – das ist bedeutsam, denn pro Mitglied fließt Geld aus
       Landesmitteln. Rund 250 Personen hatte die Gemeinde gemeldet, vermutlich
       seien es nur 45 echte Mitglieder gewesen, sagte B. Über diese Differenz gab
       es später Streit mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden.
       
       Doch um dieses Geld ging es vor Gericht nicht, sondern um 173 kleinere und
       größere Abhebungen und Überweisungen. „Mir wurde gesagt: Herr Seibert kann
       keinen Kaugummi kaufen, ohne mit Jüdische Gemeinde zu unterschreiben, das
       wisse ganz Pinneberg“, berichtete B. Wie lange das so ging, darf das
       Gericht nicht interessieren: Angeklagt sind nur Taten zwischen 2016 bis
       April 2019 – falls es früher weitere Vorfälle gab, sind sie verjährt.
       
       ## Der Angeklagte schweigt
       
       Richterin Katja Komposch hatte viele Fragen, auch an den Angeklagten. Doch
       Wolfgang Seibert schwieg. Der jetzt 76-Jährige mit dem grau-weißen
       Haarschopf saß neben seinem Anwalt Alexander Hoffmann, lauschte aufmerksam,
       aber ohne viel Regung, wie B. von einem Verein berichtete, in dem der
       Vorsitzende selbst die Bücher führte und sich Ausgaben genehmigte. Die
       Hürden waren gering: Niemand habe Lust auf die Buchhaltung gehabt,
       Kassenprüfungen fanden bestenfalls laienhaft statt, die zweite Vorsitzende
       sprach kaum Deutsch.
       
       Erst im Nachhinein las B., die erst 2018 der Gemeinde beitrat, die
       Kontoauszüge: „Es ging Geld ab, tauchte aber nicht in der Bar-Kasse auf. Da
       muss ich sagen: Dann ist es weg.“ Die Gemeinde sei „ein
       Ein-Mann-Unternehmen“ gewesen. Das Unfassbare: „Niemand hat kontrolliert,
       auch nicht das Land, das Fördermittel für Bautätigkeiten überwies.“
       
       Hoffmann erklärte in Seiberts Namen, dass er im Ehrenamt sehr viel Arbeit
       mit Einkäufen für Sabbat-Feiern und für Auftritte gehabt habe. Mehrfach sei
       im Vorstand besprochen worden, dass Seibert Kosten für Auto oder Telefon
       erstattet bekomme. Zudem habe Seibert rund 10.000 Euro durch Vorträge oder
       Preisgelder erwirtschaftet.
       
       Überzeugend fand die Richterin das nicht: „Man kann nicht einfach Geld aus
       dem Vereinsvermögen abheben, weil man meint, es gehöre einem.“ Die Frage
       sei auch, warum private Einnahmen dort „gebunkert“ würden: „Wären die
       Honorare steuerpflichtig?“
       
       ## Berg von Kontounterlagen
       
       Zeitweise war der Ton zwischen Hoffmann und Komposch scharf: Die Richterin
       verwies darauf, dass es einen Berg von Kontounterlagen gab, den sie –
       „offenbar als Einzige“ – durchgearbeitet habe. Aus den Buchungen sei für
       sie klar, dass Seibert das Geld entnommen habe.
       
       Für Seibert spreche, dass es ihm „leicht gemacht wurde“, gegen ihn, dass es
       sich um eine Jüdische Gemeinde handelte, mit einem entsprechenden Schaden
       in der Außenwirkung. Sie wandte sich an den Angeklagten: „Und ich habe noch
       kein Wort der Einsicht gehört, eher die Haltung, es stehe Ihnen zu. Dem ist
       so nicht, Herr Seibert.“
       
       Wolfgang Seibert habe es genossen, mehr Geld zu haben – der Rentner hat nur
       rund 1.000 Euro im Monat zur Verfügung, sagte sein Anwalt. Heute sei
       Seibert „sehr unglücklich“ darüber: „Er hatte eine hohe Identifikation mit
       der Gemeinde. Mit Aufgabe des Amtes hat er seinen Lebensinhalt verloren.“
       
       8 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
       
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