# taz.de -- Überschwemmungen in Indien: Die Mittelschicht ruiniert ihr Land
> Versiegelungen von Flächen und Privatautos haben in Indien vor allem
> heftige Überflutungen zur Folge. Das System kann kaum mehr repariert
> werden.
IMG Bild: Chennai, Indien, 05.12.2023: Menschen überqueren eine überflutete Straße
Im vergangenen Monat habe ich erstmals seit vier Jahren Assam besucht,
einen Bundesstaat im Nordosten Indiens. Dort wurde ich geboren. Ich war
überrascht, als das Taxi vom Flughafen von Guwahati auf seiner Fahrt eine
lange, neu erbaute Überführung nutzte und über allem dahinzuschweben
schien. Die Leute dort sind froh, dass sie jetzt schneller zum Airport
kommen, aber in der Stadt fließt der Verkehr weiterhin zäh. Guwahati mit
knapp einer Million Einwohnern ist eine der ethnisch vielfältigsten Städte
Nordost-Indiens, aber effizient sind hier nur die Schnellstraßen.
Die Busfahrt weiter nach Norden in meine Geburtsstadt Jorhat dauerte sechs
Stunden. Seit meiner Kindheit waren wir jeden Sommer auf dieser gewundenen
Straße durch die grüne Hügellandschaft gereist. Einmal sahen wir sogar
eines der berühmten Panzernashörner im Kaziranga-Nationalpark. Aber jedes
Jahr war zu beobachten, dass die grüne Landschaft von immer breiteren
Straßen zerschnitten wurde. Jetzt war ich schockiert, wie nach vier Jahren
überall Straßen und Überführungen gebaut wurden und die Bäume in diesem
sehr grünen Teil Indiens von grauem Staub bedeckt waren.
In Jorhat wurde ich von meiner Verwandtschaft mit großartigem Essen
verwöhnt. Aber die Hitze war erbarmungslos. Früher holten die Leute im
November die Winterkleidung hervor, das scheint heute nicht mehr nötig.
Stattdessen waren die Straßen überflutet, sobald es nur ein paar Minuten
geregnet hatte. [1][Wo soll das Wasser auch hin, wenn alles zugebaut wird?]
Meine Freunde in der Millionenstadt Chennai im Süden setzten nach dem
Zyklon „Michaung“ auf Facebook ein Häkchen hinter „in Sicherheit“. In den
Nachrichten hieß es, dass Menschen aus ihren Häusern gerettet wurden,
nachdem sie von den Wassermassen eingeschlossen worden waren. Die Bilder
von Einkaufsstraßen mit Luxusgeschäften, durch die nach Regengüssen
Schlauchboote fahren, sind in vielen indischen Städten alltäglich geworden.
## Am Ende sind alle betroffen
Die privilegierte Mittelschicht kann es sich leisten, aus dem Homeoffice zu
arbeiten, aber ihre Köchinnen und Nannys, ihr Sicherheitspersonal und die
Paketboten müssen sich durch die Fluten auf den Weg zur Arbeit machen. Am
Ende sind alle betroffen, und sei es nur, weil sie sich nun gegen
Flutschäden versichern müssen.
Es war nicht immer so, und in Assam zeigt sich, wie Indien sich dies selbst
eingebrockt hat. Niemand mit Einfluss setzt sich vor Wahlen für
öffentlichen Nahverkehr ein. Die Mittelschicht hat ihre Bedürfnisse längst
eigenständig organisiert: Sie wird in privaten Krankenhäusern kuriert,
schickt ihre Kinder auf Privatschulen, lässt sich ihre Lebensmittel an die
Türschwelle liefern. Wenn sie irgendwohin müssen, bestellen sie sich per
App einen Fahrdienst.
So steigt die Zahl der Fahrzeuge weiter. Ich möchte nicht darüber
nachdenken, wie viele Menschen auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben
sind, weil ihr Rettungsfahrzeug im Stau feststeckte. Dabei kann man den
Bessergestellten nicht zum Vorwurf machen, dass sie komfortabler leben
wollen, jeder wünscht sich, dass es den eigenen Kindern besser gehen soll
als einem selbst.
Der Auto- und der Bauindustrie ist es gelungen, den Staat zu bestechen,
damit es ihnen gut geht. Das ist in Indien so unübersehbar wie der
allmorgendliche Sonnenaufgang. Wir haben Städte mit Überführungen für
Privatautos und Straßen, die schon nach zwei Regentropfen überflutet sind.
[2][Unser System ist an einem Punkt, an dem es nicht mehr repariert werden
kann.] Die Klimakrise wird mehr extremes Wetter bringen – wir müssen
darüber nachdenken, warum wir den lokalen Verwaltungen erlaubt haben, die
Verhältnisse so eskalieren zu lassen.
Aus dem Englischen von Stefan Schaaf
9 Dec 2023
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## AUTOREN
DIR Priyanka Borpujari
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