URI: 
       # taz.de -- Compilation von Alien Transistor: Zweifel fallen lassen
       
       > Opulent, versponnen und verspult klingt der psychedelische Folk auf
       > „Glitzerbox 2“. Die Compilation wird mit einer Ausstellung in Berlin
       > gefeiert.
       
   IMG Bild: Wimmelige Wimmelbild-Illustration aus der „Glitzerbox“, kompiliert von Marion Epp alias Jimmy Draht
       
       Ganz schön kalt und grau da draußen. Selbst den Glitter aus dem
       Drogeriemarkt hat die EU unlängst verboten, um der Mikroplastikseuche etwas
       entgegenzusetzen. Was natürlich nicht falsch ist, aber die Welt vermutlich
       nicht retten wird. Wie schön, dass man sich wenigstens mit etwas mentalem
       Glitzer einigeln und in die Musik der gleichnamigen, schön analogen
       Compilation abtauchen darf: Willkommen in der „Glitzerbox Vol. 2“.
       
       Anders als Teil 1, letztes Jahr als Kassette mit Buch erschienen, folgt der
       zweite Teil nun in einer Vinyl-Auflage: ein Compilation-Album, zu dem ein
       halbes Dutzend, teils ausladende Kunstwerke kredenzt werden. Man kann es
       auch umgekehrt beschreiben: ein Siebdruckbuch mit einer eklektischen
       Mischung von Kunstwerken – begleitet von einem seltsamen, wärmenden
       Soundtrack.
       
       Veröffentlicht von Alien Transistor, dem Münchener Label, das [1][Micha und
       Markus Acher gegründet haben. Die umtriebigen Brüder, am bekanntesten durch
       ihre Band The Notwist,] sind seit Jahrzehnten in so vielen Zusammenhängen
       unterwegs, dass man nur schwer den Überblick behält – [2][Gamelan-Sounds
       spielen in ihrem musikalischen Kosmos] ebenso eine Rolle wie
       experimenteller HipHop und psychedelischer Avant-Folk aus Japan von der
       Band Tenniscoats. Mit denen haben sie dann auch gleich ein gemeinsames
       Projekt, Spirit Fest, gegründet.
       
       Auch bei der Arbeit für ihr Label öffnen die beiden ihr Herz für alles
       Mögliche: Verspieltes Songwriting kommt da ebenso zum Vorschein wie
       schräger Jazz. Vom kooperativ-freundschaftlichen Geist, der ihr Schaffen
       durchzieht, profitiert nun auch „Glitzerbox“. Gleich nach einem plingeligen
       Guck-in-die-Luft-Auftakt namens „Unifactor“ kündet die neuseeländische
       Singer-Songwriterin Maxine Funke am Klavier von der „Suspension of
       Disbelief“, also von einem „Aufheben des Zweifelns“ – was sich auch als
       Gebrauchsabweisung für die Glitzerbox verstehen lässt. Gründe zum Staunen
       liefert sie gleich einige.
       
       Fragiler LoFi-Rock 
       
       Kevin Cormack und Mathew Fowler, die sich zusammen Jam Money nennen, sind
       gleich mit drei Tracks vertreten. Trotz konzeptioneller Selbstbeschränkung
       – Aufnehmen mit Vier-Spur-Rekorder und Musizieren auf halb kaputten
       Instrumenten – ist ihr fragiler LoFi-Rock ein wilder Ritt. Sie zitieren
       unterschiedlichste Referenzen – allerdings mit einer ziemlich bekifften
       Aufmerksamkeitsspanne. Schwuppdiwupp, sind sie wieder bei einer neuen Idee,
       die sie gleich wieder fallen lassen.
       
       Im letzten Albumdrittel begegnet man dann auch den bereits erwähnten
       [3][Tenniscoats alias Saya und Takashi Ueno] wieder. Die beiden werfen
       tröstliche Klangschleifen aus, als wären es Fischernetze, und lullen ihre
       Hörer:innen mit warmem, fast mantrischen Gesang ein – worauf die
       ebenfalls aus Japan stammende Band Andersens mit dem zarten Psych-Folksong
       „Fuyu“ folgt. Einige Tracks wirken etwas verrätselt, sind eher Skizzen als
       Song. Doch selbst in avantgardistischeren Momenten verbreitet sich mehr
       eine wohlige Wärme als funkelnde Glitzerei.
       
       Richtig bunt wird es dafür bei der Kunst. Die wirkt nicht minder kryptisch
       als die Musik – und oft recht doppelbödig. Etwa die auf den ersten Blick
       vergnügten, comicartigen Wimmelbilder des Belgiers Laurent Impeduglia. Auf
       den zweiten Blick tanzen Skelette zwischen Palmen und ein Totenschädel
       wirft Tentakeln aus, an denen weitere Schädel hängen.
       
       Auch Tomoko Mori, die in Tokio Textildesign studierte und seit 2007 in
       Berlin lebt, widmet sich einer Art „Oktopustanz“ – so der Titel ihres
       ornamentalen grün-gelb-roten Bildes, das sich über drei LP-Quadrate
       erstreckt. Es wirkt aber eher wie eine Unterwasserwelt, in der sich eine
       Krake ein schönes Versteck suchen kann. Trotz seiner Größe scheint ihr
       Tableau über sein Format hinauszureichen: eine Ahnung von ozeanischer
       Unendlichkeit.
       
       Kompiliert und realisiert hat die ansprechenden Siebdrucke Marion Epp alias
       Jimmy Draht. Das Schönste an ihrer Glitzerbox ist, dass man sie in ein paar
       Tagen oder Wochen wieder in die Hand nehmen kann und möglicherweise alles
       ganz anders wirkt. Denn so leise und verhalten viele der mäandernden Tracks
       auf den ersten Blick daherkommen, entwickeln sie ein Eigenleben – und
       erlauben immer wieder neue Synergieeffekte zwischen Bild und Ton.
       
       4 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vertigo-Days-von-The-Notwist/!5746887
   DIR [2] /Folkmusik-aus-Bayern/!5594762
   DIR [3] /Musik-aus-dem-Notwist-Umfeld/!5849525
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
       ## TAGS
       
   DIR Musik
   DIR Ausstellung
   DIR Berlin Ausstellung
   DIR Folk
   DIR Pop
   DIR Psychedelic-Rock
   DIR Pop
   DIR Musik
   DIR Portugal
   DIR taz Plan
   DIR Leipzig
   DIR Pop
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Artschool-Band What Are People For?: Kriminelle halten auch Nickerchen
       
       Die Münchner Artschoolband What Are People For? besticht mit ihrem Faible
       für eingängige Refrains und wilde Experimente. Nun kommt eine neue Single.
       
   DIR Musiker über Instrument des Jahres: „Dieses Vibrieren auf der Schulter“
       
       Die Tuba ist das Instrument des Jahres 2024. Micha Acher von der Band The
       Notwist reflektiert seine Beziehung zum tiefsten Blechblasinstrument.
       
   DIR Avantgarde-Festival auf Madeira: Wanderung in zerklüftetem Terrain
       
       Das Festival „MadeiraDig“ hat die portugiesische Atlantikinsel zum großen
       Labor für experimentelle Musik gemacht. Ein Augenschein.
       
   DIR Konzertempfehlungen für Berlin: Gefiedel und Geknister
       
       In den Uferhallen präsentieren sich die Serious Series. Gamut Inc erstellt
       Kreise und Loops. Ariel Efraim Ashbel zeigt Kindern, was ein Musical ist.
       
   DIR Neues Album von „Die Quittung“: Die Alten wundern sich doch
       
       „Einfrieren“ ist ein stilistisch austariertes Popalbum der Leipziger Band
       „Die Quittung“. Ihre Songtexte haben die Gegenwart im Blick.
       
   DIR Saroos' neues Album „Turtle Roll“: Singen dank Seuche
       
       Indietronic war gestern. Das Trio Saroos polstert sein neues Album „Turtle
       Roll“ mit Gesang, Hooklines und Popappeal geschmackvoll auf.
       
   DIR Musik aus dem Notwist-Umfeld: Loop-Jazz für einen Vergessenen
       
       Die Notwist-Gebrüder Acher widmen sich US-Beatpoet Bob Kaufman und
       veröffentlichen ein Album der Tokioter Band Tenniscoats.