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       # taz.de -- Symbol der weiblichen Emanzipation: Diese Kriegerin hat die Ruhe weg
       
       > Die „Amazone zu Pferde“ im Berliner Park Großer Tiergarten war mal
       > Kaisers Liebling. Die Bronzeplastik lädt auch im Winter zu einem Besuch
       > ein.
       
   IMG Bild: Die „Amazone zu Pferde“ im Tiergarten lädt zu Kontemplation ein
       
       Berlin taz | Schneeflocken liegen auf der entblößten rechten Brust; die
       linke ist von einer Tunika bedeckt, die bis zum Knie reicht. Barfuß und
       aufrecht sitzt die Frau auf einem Pferd – die Bronzeplastik steht im
       südöstlichen Teil des Großen Tiergartens, einem Park im Berliner Bezirk
       Mitte, im Zentrum des runden Floraplatzes. In der rechten Hand hält die
       [1][„Amazone zu Pferde“] eine Streitaxt, die linke Hand ruht auf dem Tier –
       eine zeitlose Kriegerin.
       
       Ihre Geschichte wird auf einer Tafel erläutert: Bei der 5,50 Meter hohen,
       überlebensgroßen Plastik handelt es sich um einen vergrößerten Nachguss der
       lebensgroßen „Amazone zu Pferde“, die vor dem Alten Nationalgalerie auf der
       Museumsinsel in Berlin-Mitte steht.
       
       ## „Flora“ musste der Amazone weichen
       
       Der deutsche Bildhauer [2][Louis Tuaillon] präsentierte die Figur auf der
       Großen Berliner Kunstausstellung 1895 und soll damit eine Sensation
       ausgelöst haben: Kaiser Wilhelm II. beauftragte ihn daraufhin, eine Kopie
       der Amazone für den Tiergarten zu schaffen. Die barocke Plastik der
       Blumengöttin „Flora“, die dort seit 1796 stand und den Platz ihren Namen
       gab, wurde 1906 von dieser Amazonen-Kopie ersetzt.
       
       An diesem Nachmittag, über hundert Jahre später, schneit es bei
       Minusgraden, es dämmert bereits. Auf dem Floraplatz stört der Verkehrslärm
       der vielbefahrenen Straße des 17. Junis und der Bundesstraße 96. Ohne diese
       Störgeräusche ließe sich stattdessen das Schneeknistern hören, das die
       wenigen Jogger*innen, Radfahrer*innen und dick angezogenen
       Spaziergänger*innen verursachen.
       
       Könnte die Amazone sehen, würde sie von ihrem Muschelkalksockel herab das
       Brandenburger Tor erblicken können. Ihre Miene wirkt friedlich, als würde
       sie den Horizont betrachten. Die hat die Ruhe weg. Ihre entspannte
       Körperhaltung deutet auf keine Gefahr hin, jedoch scheint sie auf etwas zu
       warten …
       
       Vielleicht sehnt sie sich nach dem Sommer, wenn das Stadtleben auch auf dem
       Floraplatz stattfindet – oder besser gesagt an ihr vorbeizieht in Form von
       Christopher Street Day, Demonstrationen jeglicher Couleur und
       Marathonveranstaltungen, Partys und Picknicks … Um die Ecke treffen sich
       schwule Männer zu anonymen Sexdates im Freien. Die „Amazone zu Pferde“ soll
       auch ein Treffpunkt für lesbisches Cruising sein. Ohnehin stehen Amazonen
       als Symbol der weiblichen Emanzipation; sie leben in einer idealen Welt,
       ganz ohne Männer.
       
       ## Des Kaisers Tierliebe
       
       In zwei Halbkreisen um die Bronzeplastik herum verteilt, leisten ihr zwei
       Hirsche, ein Stier, zwei Elche, zwei Bisons und ein Bär Gesellschaft. Die
       lebensgroßen Bronzefiguren auf Granitsockeln wurden hier bereits im Jahr
       1900 platziert, also noch bevor die Amazonen-Kopie hier Stellung bezog.
       Auch die Tierplastiken gingen auf einen Wunsch von Wilhelm II. zurück, der
       angeblich die Jagd liebte. Bildhauer Rudolf Siemering hatte diese
       ursprünglich 1897 für das George-Washington-Denkmal in Philadelphia (USA)
       angefertigt. Nachdem der Kaiser aber die Gipsmodelle der Tierfiguren in
       Siemerings Atelier sah, wurden Nachgüsse für den Floraplatz bestellt.
       
       Die Tierplastiken wurden während des Zweiten Weltkrieges stark beschädigt
       und an anderen Ecken im Park aufgestellt. Bär und Stier gingen zwischen
       1949 und 1951 gänzlich verloren, vermutlich wurden sie von Metalldieben
       geklaut und eingeschmolzen. Die Amazone aber überstand den Krieg fast ohne
       Schaden.
       
       ## Endlich wiedervereinigt
       
       Erst 2020 wurde der Platz so rekonstruiert, wie er 1900 ausgesehen hat –
       dank eines Projektes der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, des
       Landesdenkmalamtes und der Unteren Denkmalschutzbehörde Mitte. Bisons,
       Hirsche und Elche wurden in Werkstätten restauriert. Stier und Bär
       nachgegossen. Nach langer Trennung und Kosten in Höhe von 450.000 Euro
       wurden 75 Jahre nach dem Ende des Krieges Amazone und Tiere
       wiedervereinigt.
       
       Und auch wenn im Sommer Kinder auf den Tierfiguren herumklettern und
       Tourist*innen davor für ihre Selfies posieren, bleiben sie an einem
       winterlichen Abend wie diesen unbeachtet.
       
       Ach ja, und die originale „Amazone zu Pferd“ auf der Museumsinsel? Die
       scheint ebenfalls kaum Aufmerksamkeit zu erregen, auch wenn sie
       gelegentlich zum Fotomotiv wird. Sie schaut Richtung Spree und Fernsehturm.
       Ihr Augenausdruck wirkt wacher, als der ihrer Nachbildung im Tiergarten.
       
       Vielleicht, weil es vor dem Museumseingang, hoch über den Stufen, noch eine
       dritte „[3][Amazone zu Pferde“] gibt, die von August Kiss stammt, eine
       kämpferische: Mit einem Speer in der Hand scheint sie an einer Schlacht
       teilzunehmen.
       
       8 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Amazone_zu_Pferde_(Tuaillon)
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Louis_Tuaillon
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Amazone_zu_Pferde_(Ki%C3%9F)
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Luciana Ferrando
       
       ## TAGS
       
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