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       # taz.de -- Radikaler Klimaprotest: Mit Linsen gegen SUVs
       
       > Stefan schleicht durch die Reichenviertel Berlins und lässt bei teuren
       > Autos die Luft aus den Reifen. Warum tut er das? Ein nächtlicher
       > Streifzug.
       
   IMG Bild: Will Öffentlichkeit, aber nicht zu viel: Stefan vor dem Objekt seines Hasses
       
       Berlin taz | Schhhhhhh. Ein langanhaltendes Zischen, ein fast beruhigender
       Ton. Man hört ihn gut, weil hier, in der Villenkolonie Lichterfelde im
       Südwesten Berlins, um kurz vor zwei Uhr nachts kaum ein anderes Geräusch zu
       hören ist. Wenn man genau lauscht, kann man ihn sogar von mehreren Stellen
       vernehmen, da vorne links, dann ein paar Meter dahinter, und gegenüber auf
       der anderen Straßenseite noch einmal.
       
       Straßenlaternen erhellen die Dunkelheit, manche der Gründerzeitvillen
       schmückt Weihnachtsbeleuchtung, doch die meisten Fenster sind dunkel.
       Zunächst ist die Stille so ungewohnt, dass sich jedes fallende Blatt wie
       menschliche Schritte anhört. Kommt da jemand? Dann gewöhnen sich die Ohren
       an die wenigen Geräusche, es wird klar, dass hier gerade wirklich niemand
       unterwegs ist. Niemand außer Stefan.
       
       Stück für Stück arbeitet Stefan sich vor, mit Ruhe, Präzision und einer
       immer gleichen Abfolge von Bewegungen: Flugblatt aus der Tasche nehmen,
       umschauen, Flugblatt hinter den Scheibenwischer klemmen. Neben einen Reifen
       hocken, Ventil finden, Kappe lösen. Stefan hat Linsen dabei, ganz
       gewöhnliche braune Linsen, denn die eignen sich am besten für das, was er
       vorhat. Er nimmt eine der Linsen und klemmt sie in das Ventil. Wenn er
       jetzt die Kappe wieder aufsetzt, drückt die Linse auf das Ventil, und die
       Luft entweicht. Schhhhhhh. Weiter zum nächsten SUV, mehr als 50 Meter muss
       er dafür hier nie zurücklegen, manchmal stehen gleich zwei, drei direkt
       hintereinander.
       
       Stefan heißt eigentlich anders, auf seine Bitte hat die taz ihn
       anonymisiert. [1][Stefan ist Tyre Extinguisher, wörtlich übersetzt
       Reifen-Auslöscher]. So nennt sich eine Bewegung, die ihre Mission
       folgendermaßen beschreibt: „Wir werden es unmöglich machen, in den Städten
       dieser Welt einen SUV zu besitzen. Für das Klima, die Gesundheit und die
       öffentliche Sicherheit.“ Ihre Aktionsform: Die Luft aus SUV-Reifen lassen,
       ein Auto nach dem anderen.
       
       ## Immer mehr SUVs
       
       „Achtung, Ihr Spritfresser ist tödlich“, lautet die Überschrift des
       Flugblatts, das Stefan hinter die Scheibenwischer klemmt. „Sie werden
       wütend sein, aber nehmen Sie es nicht persönlich. Es liegt nicht an Ihnen,
       sondern an Ihrem Auto“, beginnt der Text, danach folgt eine Erklärung dazu,
       welche Folgen SUVs für das Klima, die Luftverschmutzung [2][und die
       Unfalldichte] haben. 130 solcher Flugblätter hat Stefan heute Nacht dabei,
       nach gut drei Stunden wird er sie alle verteilt haben.
       
       Drei Tage später sind bei der Polizei 31 Anzeigen von Autobesitzern
       eingegangen, die ihre Autos mit platten Reifen vorgefunden haben. Ein
       Polizeisprecher sagt der taz, einige der Anwohner hätten gemeldet, ihre
       Reifen seien zerstochen gewesen. Stefan sagt, er mache nie etwas anderes,
       als die Luft herauszulassen. Während die taz ihn begleitet, gibt es keinen
       Hinweis darauf, dass das nicht stimmt.
       
       [3][Der deutlich gestiegene Anteil von SUVs] ist der Hauptgrund, warum die
       Emissionen im deutschen Verkehr seit 1990 kaum gesunken sind. Die deutschen
       Autobauer setzen mittlerweile fast ausschließlich auf diesen Fahrzeugtyp,
       der SUV-Anteil [4][bei Neuzulassungen von Pkws in Deutschland betrug im
       ersten Halbjahr 2023 mehr als 40 Prozent].
       
       Stefan sagt, er verstehe nicht, warum irgendjemand in der Stadt einen SUV
       fahren müsse. „Ich habe da wirklich drüber nachgedacht, aber mir fällt
       einfach kein einziger guter Grund ein.“
       
       Die Tyre Extinguishers starteten im März 2022 in Großbritannien,
       mittlerweile gibt es sie in rund 20 Ländern. Auf der Website werden die
       Ziele der Bewegung erklärt, man kann sich das Flugblatt herunterladen. Es
       gibt eine Anleitung, wie man SUVs erkennt, und ein Video, das zeigt, wie
       man die Luft aus den Reifen lässt. Die Botschaft: Jede:r kann Tyre
       Extinguisher sein.
       
       In dieser Nacht darf nur das Nötigste gesprochen werden, weil Stefan nicht
       erwischt werden will, ein längeres Gespräch mit ihm findet deswegen an
       einem anderen Tag statt. Stefan sagt, er sei im Plattenbau aufgewachsen,
       für ein Auto habe seine Familie nie Geld gehabt. „Irgendwie links“ sei er
       schon immer gewesen, für das Klima habe er sich aber erst stärker zu
       interessieren begonnen, als die Klimastreiks von Fridays for Future
       anfingen. „Ich fand das eine gute Idee, dass man so lange streikt, bis es
       die richtigen Gesetze gibt“, sagt Stefan, „aber das hat ja leider nicht
       funktioniert.“
       
       ## Keine Klimagruppe passte richtig
       
       Er habe sich dann über einige Monate an den Straßenblockaden von Extinction
       Rebellion beteiligt, doch das sei eher frustrierend gewesen, weil sie meist
       schnell von der Polizei geräumt wurden. Er geht zu einer anderen, kleineren
       Gruppe. Er habe gedacht, dort sei es vielleicht eher möglich,
       mitzubestimmen, wie die Aktionen ablaufen. „Aber ich hab dann gemerkt, dass
       das da eigentlich auch alles in einem inneren Kreis entschieden wird, in
       den man gar nicht reinkommt.“
       
       Insgesamt habe ihn außerdem das Verhältnis von Plena und Aktionen gestört:
       „Es wurde so viel geredet, geredet, geredet, das ist ja für viele bestimmt
       auch gut, aber für mich ist das nichts.“
       
       Über Twitter und Zeitungsartikel wird er schließlich auf die Tyre
       Extinguishers aufmerksam. „Ich hatte das Gefühl, das ist etwas, das ich
       einfach machen kann, auch alleine.“ Linsen habe er sowieso zu Hause gehabt,
       sagt er lachend, auch wenn er am Anfang nicht verstanden habe, welche Sorte
       genau mit den empfohlenen „green lentils“ gemeint sei. [5][Mittlerweile
       wisse er, dass sich Berglinsen am besten eignen], weil sie die richtige
       Größe haben und nicht so schnell aufweichen.
       
       Stefan ist ein freundlicher, offener Mann, der es gut findet, dass es
       Interesse an seinen Aktionen gibt. Er will, dass andere erfahren, wie
       einfach das geht. Bei seinem ersten nächtlichen Ausflug sei er sehr nervös
       gewesen, erzählt er und habe Fehler gemacht: Keine Handschuhe getragen, ein
       Papier mit persönlichen Daten, das er aus Versehen noch in der Tasche
       hatte, einfach in Panik in den nächsten Gulli geschmissen. Am nächsten Tag
       habe er dann die Berichte über die platten Autoreifen gelesen, die er
       verursacht hatte. Er sei überrascht gewesen, weil er so viel
       Berichterstattung nicht erwartet hatte, noch nervöser, aber auch froh: „Das
       war ein Gefühl von Selbstwirksamkeit.“
       
       Dass sich die SUV-Fahrer:innen aufgrund seiner Aktionen direkt ein
       kleineres Auto zulegen, erwarte er nicht, sagt Stefan. Aber dass die
       Bewegung es unbequemer machen kann, in der Stadt einen SUV zu fahren,
       glaubt er schon. Außerdem werde durch die Aktionen Aufmerksamkeit auf das
       SUV-Problem gelenkt, und die könne dabei helfen, die Politik zum Handeln zu
       bringen.
       
       Die Gebiete, in denen Stefan aktiv ist, wähle er anhand der Karten des
       Kaufkraft-Index aus. „Da, wo die Kaufkraft hoch ist, gibt es am meisten
       SUVs.“ Dass er vor allem in reichen Gegenden unterwegs ist, sei nicht nur
       politisch, sondern auch praktisch motiviert: Je enger die SUVs
       zusammenstehen, desto mehr schafft er. In Lichterfelde, einer der reichsten
       Gegenden Berlins, sind es in dieser Nacht mehr als je zuvor.
       
       ## Er spürt die Polizei auf seinen Fersen
       
       Stefan ist längst nicht der einzige in Berlin aktive Tyre Extinguisher, und
       auch in weiteren Städten gibt es Aktionen. Mehrere Polizeidirektionen geben
       gegenüber der taz an, bereits Ermittlungen aufgenommen zu haben. Der
       Anfangsverdacht laute Sachbeschädigung, sagt eine Sprecherin. Ob diese
       tatsächlich vorliege, wenn die Luft aus einem Reifen gelassen werde, komme
       auch darauf an, wie groß der Aufwand und Schaden sei, der entstehe.
       
       2009 gab es in Berlin einen Prozess gegen drei Personen, denen vorgeworfen
       wurde, ebenfalls aus klimapolitischer Motivation Luft aus den Reifen
       besonders spritschluckender Autos gelassen zu haben. Ihre Verteidigung
       argumentierte damals, es handele sich keineswegs um Sachbeschädigung, weil
       die Autos bei den Aktionen nicht beschädigt werden. Das Verfahren gegen die
       drei jungen Männer wurde gegen die Zahlung von 400 Euro pro Person
       eingestellt.
       
       Stefan rechnet damit, dass auch er bald die Polizei auf den Fersen haben
       könnte. Bislang habe er nur eine brenzlige Situation erlebt: Ein Passant
       habe ihn in dem Moment gesehen, als er neben einem Autoreifen kniete. Er
       habe sich davongemacht. Als er einige Stunden später zurückkehrte, erkannte
       er an Zetteln, die neben seinen klebten, dass die Polizei da gewesen war.
       
       An den Aktionen der Tyre Extinguisher gibt es auch von links Kritik: Sie
       zielten zu stark auf den individuellen Autofahrer und zu wenig auf die
       Politik. Stefan sagt, er müsse sich damit vielleicht noch mehr
       auseinandersetzen, aber erst mal würde er sagen, dass er das anders sieht.
       „Ich finde schon, dass auch jeder Einzelne einen Beitrag zum Klimaschutz
       leisten muss, dass man die Verantwortung nicht einfach so abgeben kann“,
       sagt er. Die Art von Konsumkritik, bei der Leute verurteilt werden, weil
       sie kein Bio-Essen kaufen, obwohl sie sich das vielleicht nicht leisten
       können, lehne er ab. Bei den SUVs sei die Sache doch anders.
       
       „Die Linken sagen immer, der Kapitalismus ist schuld, die Strukturen, und
       das stimmt ja auch“, sagt Stefan. „Aber ich hab halt auch einfach Hass auf
       die Reichen.“ Sein Tonfall ist dabei genauso freundlich wie bei allen
       anderen Sätzen. Dass er mit seinen Aktionen die Welt retten werde, bilde er
       sich nicht ein. Aber überhaupt etwas tun zu können, das einen Effekt habe,
       das sei schon ein gutes Gefühl.
       
       16 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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