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       # taz.de -- AfD-Kandidat wird Oberbürgermeister: Advent, Advent, in Pirna brennt’s
       
       > Tim Lochner hat in Pirna die erste Oberbürgermeisterwahl für die AfD
       > gewonnen. Auch wegen Uneinigkeit im restlichen politischen Lager.
       
   IMG Bild: Tim Lochner beim Wahlkampf in Pirna im Juli
       
       Berlin taz | Tim Lochners Amtszeit beginnt mit einer Ansage, die durchaus
       auch als Drohung verstanden werden kann: Er wolle versuchen, in der
       Mitarbeiterschaft im Rathaus möglichst „jeden einzelnen persönlich
       kennenzulernen – und auf Loyalität zu prüfen“, sagte er nach seinem
       Wahlsieg in die Kamera des MDR.
       
       Zuvor hatte der 53-jährige Tischlermeister, der bei der
       Oberbürgermeisterwahl in Pirna als Parteiloser für die AfD angetreten war,
       zusammen mit seinen Fraktionskollegen und AfD-Anhängern seinen Wahlsieg
       gefeiert, Blumen entgegengenommen und sich umarmen lassen. Es ist das erste
       Mal, dass die AfD einen Oberbürgermeister stellen kann. AfD-Chefin Alice
       Weidel sprach von einem „historischen Erfolg“. Pirna ist eine Stadt mit
       40.000 Einwohnern zwischen Dresden und der tschechischen Grenze, die sich
       in Werbeprospekten gern das „Tor zur Sächsischen Schweiz“ nennt.
       
       Zu diesem hat nun ein AfD-Kandidat den Schlüssel. Lochner ist als
       Oberbürgermeister Chef des Pirnaer Rathauses, verantwortlich für eine
       Verwaltung von rund 250 Mitarbeitern und wird künftig die
       Stadtratssitzungen leiten. Amtsantritt ist Ende Februar 2024, gewählt ist
       er für sieben Jahre.
       
       Gerade vor einer Woche hat der Verfassungsschutz die
       völkisch-nationalistisch dominierte sächsische AfD als gesichert
       rechtsextrem eingestuft. 6.500 Pirnaer scherte das am dritten Advent
       jedoch reichlich wenig. Lochner kam auf 38,9 Prozent der Stimmen. Eine
       einfache Mehrheit reicht gemäß sächsischem Kommunalwahlgesetz im zweiten
       Wahlgang. Bereits die erste Runde hatte Lochner mit 10 Prozentpunkten
       gewonnen. Beim zweiten Mal machten sogar noch mehr Wähler ihr Kreuz bei dem
       AfD-Kandidaten – er gewann noch einmal rund 1.300 Stimmen hinzu.
       
       ## Geschenk der Konservativen
       
       Zur Wahrheit gehört auch: Die konservativen Kräfte hatten ihm zum dritten
       Advent ein [1][vorgezogenes Weihnachtsgeschenk gemacht]. Denn sowohl Ralf
       Thiele von den Freien Wählern als auch Kathrin Dollinger-Knuth von der CDU,
       mit Unterstützung von Grünen, SPD und Linke, waren im zweiten Wahlgang
       angetreten und hatten für die diffuse Situation gesorgt, dass Menschen, die
       Lochner verhindern wollten, keine klare Wahloption hatten.
       
       Am Ende kamen CDU und Freie Wähler jeweils auf etwas über 30 Prozent. Wäre
       nur eine der konservativen Parteien erneut angetreten, wäre der erste
       AfD-Oberbürgermeister ziemlich sicher verhindert worden. Immerhin stimmten
       im zweiten Wahlgang zusammen etwas über 10.000 Menschen für CDU und Freie
       Wähler. Nicht wirklich beruhigend ist, dass rund 15.000 Wahlberechtigte
       trotz der Richtungswahl gar nicht erst abgestimmt haben – die
       Wahlbeteiligung lag, Rechtsruck hin, Normalisierung von Rassismus her, bei
       53 Prozent.
       
       Ein Dilemma in Pirna war dabei, dass auch die Freien Wähler sich nicht klar
       nach rechts abgrenzten: Ein Vorstandsmitglied der Partei hatte den
       rechtsextremen Verleger Götz Kubitschek vor einem Jahr zu einem Vortrag
       eingeladen, distanziert hatte sich danach niemand davon. Auch hatten die
       Freien Wähler im Stadtrat zusammen mit der AfD erfolglos versucht,
       [2][Gelder für Demokratieförderung des Vereins „Aktion Zivilcourage“ zu
       streichen], und sich während des Wahlkampfs unterhalb der Gürtellinie über
       andere Kandidaten geäußert – Aiwanger lässt grüßen. Auch deswegen
       unterstützten SPD, Grüne und Linke die CDU-Kandidatin.
       
       Was die großspurig angekündigte „Loyalitätsprüfung“ für den neu gewählten
       AfD-Oberbürgermeister konkret heißt, blieb am Wahlabend sowie am Tag darauf
       noch vage. Wer Lochners Auftreten in den vergangenen Wochen und Jahren
       verfolgt hat, könnte da aber so eine Ahnung haben: Er organisierte
       verschwörungsideologische Coronademos, kündigte an, keine Regenbogenfahne
       mehr am Rathaus zu hissen, das Gendern zu verbieten, und sprach vom
       „Bevölkerungsaustausch“ – was er nach der Wahl [3][„nur als Privatperson“
       gesagt haben wollte]. Sicher ist Lochner auch nur als Privatperson auf
       Facebook mit dem Neonazi Max Schreiber von den Freien Sachsen befreundet.
       
       ## Pirna ist wichtiger NS-Gedenkort
       
       Die NS-Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, eine ehemalige Heil- und
       Pflegeanstalt, wo die Nazis 14.700 überwiegend psychisch kranke und geistig
       behinderte Menschen ermordeten, hatte bereits über die Stiftung Sächsische
       Gedenkstätten [4][im Vorfeld der Wahl angekündigt], keine Veranstaltungen
       zusammen mit Lochner durchzuführen.
       
       Davor gab es auch im AfD-Wahlkampf revisionistische Töne. Der
       EU-Spitzenkandidat der AfD, Maximilian Krah, hatte auf dem Pirnaer
       Marktplatz von „Umvolkung“ gesprochen und behauptete, die anderen Parteien
       wollten den Deutschen nur einreden, dass ihre Vorfahren Verbrecher waren.
       Und am Tag nach dem ersten Wahlgang waren die Freien Sachsen zusammen mit
       der „Heimat“, wie sich die NPD mittlerweile nennt, sowie mit AfD-Anhängern
       mit einer Demo vor den Kreistag und die benachbarte NS-Gedenkstätte
       gezogen. Nun steht dem Rathaus erstmals seit 1945 der Kandidat einer
       rechtsextremen Partei vor.
       
       Dass die CDU Sachsen nicht viel aus der Niederlage gelernt hat, machte
       sogleich der sächsische Unions-Innenminister Armin Schuster deutlich. Der
       sagte: „Diesen Wählerwillen gilt es zu respektieren. Genauso die
       Entscheidung der Mitbewerber, im zweiten Wahlgang wieder anzutreten.“
       Dollinger-Knuth habe in schwieriger Lage ein beachtliches Ergebnis erzielt,
       so Schuster, in einer ihrer Hochburgen sei „ein Ergebnis unter 40 Prozent
       kein grandioser AfD-Erfolg“, redete er sich das Ergebnis schön.
       
       Dollinger-Knuth selbst reagierte mit Schuldzuweisungen in Richtung Freie
       Wähler, sie ließ der taz mitteilen: „Leider haben sich die Freien Wähler
       entschlossen, allein weiterzumachen, und damit den Weg für einen AfD-Erfolg
       geebnet.“ Auch bei Thiele von den Freien Wählern hielt sich der Lerneffekt
       in Grenzen: „Ich hätte mir eine Unterstützung durch die CDU und die anderen
       Partner gewünscht“, sagte der Unternehmer nach der Wahl. Er befürchte, dass
       jetzt das Image der Stadt leide, Investoren abspringen und junge Leute die
       Stadt mieden.
       
       Kerstin Köditz, sächsische Linken-Landtagsabgeordnete, sagte mit Blick auf
       den AfD-Erfolg: „Das Erwartbare ist geschehen. Das Problem ist, dass es in
       fast jedem anderen Landkreis in Sachsen hätte ebenso geschehen können.“ Es
       sei höchste Zeit für die Zivilgesellschaft und die demokratischen Parteien,
       „die Kräfte zu bündeln und antifaschistische Strategien zu entwickeln“.
       Tatsächlich war der Erfolg Lochners angesichts der derzeitigen
       Zustimmungswerte der AfD nicht einmal besonders groß – 2017 hatte er auf
       dem AfD-Ticket bereits ähnlich viele Stimmen geholt.
       
       ## „Eigentlich eine freundliche Stadt“
       
       Auch die Zivilgesellschaft in Pirna schien am Tag nach der Wahl zunächst
       mal konsterniert. Viele hatten mit einem Erfolg der CDU-Kandidatin im
       zweiten Wahlgang gerechnet. So etwa Sebastian Reißig, der sich in Pirna
       seit mehr als 25 Jahren für Zivilcourage und demokratische Werte engagiert.
       Er war 1997 einer der Mitgründer von „Aktion Zivilcourage“ in Pirna. Damals
       gründete sich die Initiative wegen hoher Kommunalwahlergebnisse der NPD und
       viel Gewalt durch rechtsextreme Kameradschaften in der Sächsischen Schweiz.
       Seither habe sich viel in der Stadt und der Region geändert. Pirna sei
       eigentlich eine freundliche Stadt geworden, versichert Reißig.
       
       Nun sei es wichtig, genau zu beobachten, wie sich Lochner im Amt verhalte.
       Denn der sei auch an Stadtratsbeschlüsse gebunden, wo die AfD nur 5 von 25
       Sitzen hält. Eine Loyalitätsprüfung mit allen Mitarbeitern könne er nicht
       einfach so durchführen, denn schließlich sind die Mitarbeiter Recht und
       Gesetz verpflichtet und nicht einer Gesinnung.
       
       Reißig jedenfalls will sich weiter für Zivilcourage engagieren: „Wir
       bleiben als Menschen, die sich hier engagieren, auch weiterhin da“, sagt
       Reißig. Man müsse jetzt die Wahl analysieren und den Blick auf die im Juni
       bevorstehende Kommunalwahl richten. Wenngleich ihm die Normalisierung der
       AfD Sorgen bereite, verwies er darauf, dass 60 Prozent nicht für Lochner
       gestimmt hätten.
       
       ## „Wir werden nicht weichen“
       
       Auch das [5][Akubiz, eine zivilgesellschaftliche Initiative,] die unter
       anderem zu rechter Gewalt und Protestgeschehen vor Ort aufklärt, will jetzt
       erst recht weitermachen: „Selbstverständlich sind wir vom Ergebnis
       enttäuscht, und es empört uns! Dennoch werden wir uns nicht entmutigen oder
       einschüchtern lassen und weitermachen“, schreibt der Verein in einem
       Statement.
       
       Emma Schneider vom Akubiz, die eigentlich anders heißt, aber wegen rechter
       Bedrohungen ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagte
       der taz: „Wir haben das Gefühl, dass der Ton rauer wird und zunehmend eine
       Normalisierung rechtsextremer Positionen einsetzt.“ Ihr Verein werde sich
       mit anderen Initiativen zusammensetzen und schauen, wie man sich
       gegenseitig stärken könne.
       
       Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Sachsen nannte das
       Wahlergebnis einen schwarzen Tag für Pirna und alle Demokrat*innen in
       Sachsen und Deutschland. „Dass mit Pirna ausgerechnet die sächsische Stadt,
       in der eine Gedenkstätte für die Opfer der NS-Euthanasiemorde liegt, als
       erste deutsche Stadt einen AfD-Oberbürgermeister bekommt, lässt uns
       schockiert, traurig und wütend zurück“, sagt Silvio Lang, Vorsitzender der
       Vereinigung in Sachsen. Die Wahl des AfD-Kandidaten zeige insbesondere in
       Sachsen große Defizite in der Geschichts- und Demokratiebildung, wofür die
       Regierungen der vergangenen Jahrzehnte die Verantwortung trügen.
       
       „Für uns gilt umso mehr: Wir werden nicht weichen“, sagt Lang. Man stehe
       weiter in ganz Sachsen und nun besonders in Pirna an der Seite derjenigen,
       die sich den Faschist*innen in den Weg stellen.
       
       18 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /AfD-Buergermeister-in-Pirna/!5980670
   DIR [2] https://www.saechsische.de/pirna/politik/pirna-aktion-zivilcourage-bekommt-nun-doch-zuschuesse-5544298-plus.html
   DIR [3] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-12/afd-kandidat-gewinnt-oberbuergermeisterwahl-in-pirna
   DIR [4] /Gedenkstaetten-Chef-ueber-AfD/!5980446
   DIR [5] /Preis-fuer-alternatives-Kulturzentrum/!5743355
       
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