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       # taz.de -- Philip Guston in London: Wie viel Eigenes im Anderen steckt
       
       > Die Tate Modern zeigt den satirischen Maler Philip Guston. Der Künstler
       > fragte das gesellschaftliche Gewissen ab und polarisiert damit bis heute.
       
   IMG Bild: Ausstellungsansicht mit Philip Gustons „The Line“ von 1978 in der Tate Modern, London, 2023
       
       Man fällt ja nicht vom Himmel. So sagte es Philip Guston in einer
       Fernsehdokumentation über sein erstes verbrieftes Bild: „You don’t come out
       of the sky. You have to come from somewhere!“ Nun könnte man sich nach
       diesem Ausspruch eine unausgereifte Jugendsünde vorstellen – aber kaum jene
       Szenerie, die der Künstler da 1930 im Alter von gerade 17 Jahren nach
       Vorbild des italienischen Malers Giorgio de Chirico so reduziert wie
       effektvoll auf die Leinwand brachte.
       
       Es ist nicht allein der souveräne Umgang mit dem eigenen Handwerk, der
       erstaunt, sondern auch sein früher Eigensinn von Komposition und Motivik:
       Ein Baby mit greisem Haar nagt an seiner Mutter, und auch in umgekehrter
       Richtung lösen sich die Körpergrenzen auf – ein Vexierbild zwischen
       symbiotischer Liebe und Bodyhorror unter dem Licht einer ewigen, nicht
       verortbaren Sonne. Vieles, das Gustons große Malerei einmal auszeichnen
       wird, steckt hier schon drin, auch wenn die sich noch hunderte Male wieder
       und wieder neu formiert.
       
       Die Tate Modern in London zeigt „Philip Guston“, eine umfassende
       Retrospektive des kanadisch-amerikanischen Künstlers aus 50 Jahren Malerei.
       Die von Museen in den USA und im Vereinigten Königreich gemeinsam
       kuratierte Schau [1][war um mehrere Jahre verschoben worden] – ob der
       paternalistisch anklingenden Sorge, man könne seine Bilder dem Publikum in
       diesen Zeiten nicht kontextlos zumuten.
       
       Gemeint waren wohl Gustons Ku-Klux-Klan-artige Kapuzenwesen, die heute
       vielen geradezu synonym mit seinem Namen sind. Kaywin Feldman, Direktorin
       der National Gallery of Art in Washington, behauptete, Guston habe sich
       damit als weißer Künstler Schwarzes Trauma angeeignet. Es hagelte Proteste
       gegen die Verschiebung, Tate-Kurator Mark Godfrey schied erbost aus.
       
       Kein Interesse an Identitätsfragen 
       
       Ausgerechnet Philip Gustons Kunst nun einer solchen Verengung zu
       unterziehen, erscheint erst mal ungerecht. Wie viele Künstler seiner Zeit
       schien er kein gesteigertes Interesse zu haben, sich öffentlich permanent
       zu Identitätsfragen zu äußern.
       
       Doch gehört zur Biografie, dass Philip Guston 1913 als Philip Goldstein in
       Montréal geboren wurde. Seinen Namen legte er 1936, wie übrigens später
       ebenso Stararchitekt Frank (ehemals Goldberg) Gehry, zugunsten der
       anglisierten Version ab. Seine Eltern waren aus der Ukraine, wo
       antisemitische Pogrome wüteten, nach Kanada emigriert. Bald darauf zog die
       Familie nach Los Angeles – eine Stadt, in der zu dieser Zeit Mitglieder des
       Ku-Klux-Klans auch öffentliche Positionen bekleideten.
       
       Der Ku-Klux-Klan machte freilich nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung
       gegen Schwarze wie auch jüdische Menschen. Das Fortwirken dieses
       historischen Fakts zeigte sich noch 2017 in den gleichzeitig rassistischen
       wie antisemitischen Ausschreitungen in Charlottesville im US-Bundestaat
       Virginia.
       
       Judenfeindliche Bedrohungen 
       
       Die offenherzig judenfeindlichen Parolen wurden damals weder von links noch
       von US-Präsident Trump, der sich sonst gern als großer Freund von Jüdinnen
       und Juden inszenierte, besonders kommentiert. (Wie heute judenfeindliche
       Bedrohungen offenbar auch aus der Berichterstattung über die Massenproteste
       gegen den israelischen Militäreinsatz in Gaza radiert werden, die unweit
       der Londoner Ausstellung stattfanden.)
       
       Dass etliche europäische Jüdinnen und Juden im dualistischen Rassismus
       US-amerikanischer Prägung als „weiß“ gelesen wurden und sich selbst oftmals
       so zuordneten, änderte nicht automatisch etwas an ihrer
       Außenseiterposition, wie Dan Nadel in seinem Text „Now You See Me“ über
       Philip Gustons jüdische Geschichte im US-amerikanischen Kunstmagazin
       Artforum darlegte.
       
       Die Soziologin Zoé Samudzi kritisierte später, für den Jewish Current, wie
       die sterile Neuauflage von Gustons Retrospektive in den USA gerade den
       interessantesten Aspekt, nämlich die amerikanisch-jüdische Haltung zu
       rassistischer Gewalt, ausklammere. Auch Gustons namentliche Neuerfindung
       könnte ja etwas darüber erzählen, warum wer wann unsichtbar wird und wen
       der amerikanische Universalismus überhaupt gemeint haben könnte.
       
       Logiken der Malerei 
       
       Doch für solch komplexere Auseinandersetzung scheinen die
       Kunstinstitutionen heute vielleicht kein besonders geeigneter Ort.
       Stattdessen setzt man in London stärker noch als zuvor in den USA auf die
       Kraft der Kunst. Philip Gustons Werk zeigt eben, dass die Produktion von
       Malerei oft ganz anderen Logiken folgt als der Kulturbetrieb, der sie
       verwaltet.
       
       Die gruselig-banalen Kapuzenmänner, die Hoods, werden seine Bilder ebenso
       immer wieder heimsuchen wie der Malerkeil; die einsame Glühbirne, womöglich
       Reminiszenz an den Vater, der sich in einer Kammer erhängte, oder die
       mannigfaltigen Hufeisen respektive Sohlen, die womöglich den Bildern von
       Schuhsammlungen in Auschwitz entstammen, womöglich aber auch andere Quellen
       haben.
       
       Gustons frühe Bilder sind stets auf der Seite derer, die Leid und
       Unterdrückung erfahren: Den Angriff auf die spanische Stadt Guernica durch
       die Faschisten verarbeitet er in einem dramatischen Tondo. Die Lynchmorde
       und das Gebaren der US-Rassisten ziehen sich durch sein gesamtes Werk.
       Später sollten ihn die Bilder der befreiten Konzentrationslager heimsuchen
       und in verschiedenen Arbeiten Einzug halten. Doch ergibt sich bei Guston
       alles stets aus der Malerei selbst, nicht als a priori formuliertes
       Statement.
       
       Austausch mit Künstlern 
       
       Die italienische Renaissance übt einen großen künstlerischen Einfluss aus,
       ebenso wie der metaphysische Maler de Chirico [2][oder die US-amerikanische
       Comickultur]. Gemeinsam mit Freunden wie Reuben Kadish malt der politisch
       aktive Künstler in den 1930er Jahren großformatige Wandgemälde, bevor er
       später wieder zur Leinwand zurückkehrt. Auch als dann allein im Studio
       stehender Künstler liebte Philip Guston den Austausch mit anderen
       Künstlern, [3][Schriftstellern wie Philip Roth] oder dem Komponisten Morton
       Feldman, dessen Musikstück an den Malerfreund in der Ausstellung zu hören
       ist.
       
       Formal präsentiert sich sein hier chronologisch aufbereitetes Werk als
       permanentes Hadern mit der Abstraktion. Oder eher, ein Ankämpfen gegen den
       eigenen Drang zur Figuration. Auch wenn er den streckenweise bemerkenswert
       überwältigen kann – so 1951 erstmalig mit „White Painting“, auf dem der
       Künstler mit Weiß, Beige, Grau in diversen Abstufungen eine raumgreifende,
       spannungsvolle, schlicht perfekte Komposition schafft. Und beinahe
       gespenstisch-körperliche Präsenz entfalten die dichten Farbwolken, die
       Guston bald darauf über die großen Leinwände schickt.
       
       So hätte er wohl erfolgreich weitermachen können, doch im Gegensatz zu
       vielen MalerInnen seiner Generation wandte sich Guston bald wieder der
       Figuration zu. Interessanterweise verläuft dieser Weg über eine Obsession,
       die den Künstler mit [4][Max Beckmann] ebenso verbindet wie mit den
       Cartoons: Es ist die Linie. In einer Zeit der Einsamkeit und Isolation
       entstanden kleinformatige Leinwände, auf denen ganze Bildräume allein mit
       ein, zwei schwarzen Linien kreiert werden.
       
       Wenige Jahre später sind die Kapuzenmänner wieder da. Die Hoods, die schon
       Jahrzehnte zuvor immer wieder schemenhaft gespenstisch sich ins Bild
       geschlichen hatten, erscheinen nun so brachial-banal, wie Guston fortan
       seine kompletten Motive ausarbeitet. Oft in der Lieblingsfarbe Pastramirot
       bis Fleischrosa.
       
       Spott und Schrecken 
       
       Die Abbilder der White Supremacists aus den 1930er Jahren führen längst ein
       Eigenleben auf der Leinwand: geistern auf Kunstvernissagen herum, führen
       diskursive Debatten über Farbe, werden zum Künstler im Atelier. Es ist
       natürlich ein Lustigmachen, nicht zuletzt über den eigenen Betrieb, aber
       Lachen und Spott schmälern den Schrecken nicht. Auf einem sagenhaften Bild
       fahren die uniformierten Kapuzenleute ins Morgengrauen, Kippe in der Hand,
       Gebeine ragen aus dem Auto; der amerikanische Horizont unendlich weit und
       bedrückend eng zugleich.
       
       In den letzten Jahren seines Schaffens erhielten der Künstler und seine
       Frau, die Malerin und Dichterin Musa McKim, seltener Besuch in der Einöde
       von Woodstock. Gustons Leinwände sind immer noch gewaltig, aber die Motive
       reduzierter: Alltagsobjekte, Kapuzen, Uhren, Pinsel, Beine,
       Zigarettenrauch, das malerische Alter Ego in Form eines Zyklopen bleiben
       zunehmend als Vereinzelte auf der Leinwand.
       
       Die Frage, wie viel Eigenes im Anderen steckt, auch und gerade im ultimativ
       Bösen, zieht sich als roter Faden durch Gustons Werk wie die Frage, was
       Kunst denn überhaupt zu tun vermag. Auf einem seiner letzten Bilder reckt
       sich eine comicmäßig gestählte Malerhand aus den Wolken zur Erde und setzt
       an, eine Linie zu zeichnen. „Only god can make a tree“, wird Philip Guston
       in seinem lakonischen Humor zum Schluss zitiert, und macht sein
       lebenslanges Medium, die Malerei, damit noch einmal zum fabelhaften
       Teufelszeug, das sie in ihren besten Momenten ja sein kann.
       
       18 Dec 2023
       
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