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       # taz.de -- Unterwegs im Westjordanland: Ohnmacht, Wut und Militanz
       
       > Die Hamas wird im Westjordanland populärer und 90 Prozent fordern den
       > Rücktritt von Palästinenserpräsident Abbas. Vor allem Junge
       > radikalisieren sich.
       
   IMG Bild: Protest in Solidarität mit Gaza nach dem Freitagsgebet in Ramallah am 8. Dezember
       
       Ramallah, Tulkarem taz | Kurz nach dem Freitagsgebet versammeln sich auf
       dem Manara-Platz in Ramallah etwa zweihundert Menschen. Auf den
       Fernsehbildschirmen der Cafés flackern Bilder hunderter gefesselter und bis
       auf die Unterhose ausgezogener Gazaner, bewacht von israelischen Soldaten.
       In den Gesichtern in Ramallah spiegeln sich Trauer und Wut, die
       Protestierenden fordern ein Ende der israelischen Angriffe – und der
       Besatzung: „Kein Kompromiss, wir wollen unser Land“, rufen sie. Und:
       „Danke, danke, oh Kassam“, an die Adresse der Kassam-Brigaden, des
       militärischen Arms der islamistischen Hamas. Zwischen den palästinensischen
       Fahnen, die auf dem Platz geschwenkt werden, wehen auch deren grüne.
       
       Vor dem Krieg wäre die Palästinensische Autonomiebehörde (PA)
       wahrscheinlich dagegen vorgegangen: Die im Westjordanland herrschende
       Fatah-Bewegung unterbindet seit Jahren brutal jede politische Konkurrenz.
       Heute bleibt es ruhig.
       
       Ramallah mit seinen 40.000 Einwohnern ist das liberale Zentrum des
       A-Gebiets, jenes kleinen Teils des Westjordanlandes, in dem der PA nach
       Jahrzehnten gescheiterter Friedensverhandlungen, israelischer Besiedlung
       und der Aufteilung während des Oslo-Friedensprozesses in den 1990er Jahren
       die Verwaltung und die Sicherheit obliegen. Hier liegen die Büros und
       Ministerien der Selbstverwaltung, aus der einmal ein Palästinenserstaat
       hätte werden sollen.
       
       Die meisten Demonstrierenden gehören zu einer einigermaßen privilegierten
       Mittelschicht. Weshalb und ob sie die Taten der Hamas am 7. Oktober
       gutheißen, darüber wollen viele der Teilnehmer nicht sprechen. Neben der
       Wut herrscht vor allem Angst. Mehr als 4.000 Menschen hat die israelische
       Armee im Westjordanland laut palästinensischen NGOs binnen zwei Monaten
       festgenommen. Hinzu kommen fast 500 Palästinenser, die seit Anfang des
       Jahres bei Razzien und Zusammenstößen vom Militär erschossen wurden.
       Israelische Politiker betonen regelmäßig, der Krieg in Gaza gelte der
       Hamas. Viele hier in Ramallah sind überzeugt, er gelte dem
       palästinensischen Volk.
       
       ## Gespannte Stille über Ramallah
       
       Abseits des Protests liegt über Ramallah wie vielerorts im Westjordanland
       dieser Tage eine gespannte Stille. Die Armee hat Verbindungsstraßen
       zwischen vielen Ortschaften mit Checkpoints geschlossen. Immer wieder gibt
       es Angriffe durch extremistische Siedler. Viele Menschen bleiben zu
       Hause.
       
       In einem Café in der Stadtmitte scrollt Ehab Bessaiso auf seinem Smartphone
       durch Bilder aus Gaza. Der 45-jährige ehemalige Sprecher und Kulturminister
       der PA ist aufgewühlt. „Ich bin dort aufgewachsen, schau dir das an“, sagt
       er und zeigt ein Foto von verwesten Körpern auf einer Straße. Das Viertel
       seiner Eltern, eine Trümmerwüste. Seine Schule, sein Kulturzentrum:
       Schutthaufen.
       
       Wie viele Palästinenser sieht Bessaiso den 7. Oktober nicht als
       historischen Einschnitt durch das größte Massaker an Juden seit dem
       Holocaust, sondern als Resultat jahrelanger Unterdrückung.
       
       Der Angriff sei „furchtbar“ gewesen, doch sei Israel letztlich schuld
       daran, dass nicht rechtzeitig eine Lösung gefunden worden sei. Die
       Regierungen der vergangenen Jahre, vor allem unter Ministerpräsident
       Benjamin Netanjahu, hätten die palästinensische Selbstverwaltung
       verunmöglicht. „Sie wollten die PA nicht, sie wollten die Hamas nie. Sollen
       sie es doch offen sagen: Sie wollen keine Palästinenser in diesem Land.“
       
       Die PA, die dieser Tage besonders von den USA als mögliche Regierung eines
       Nachkriegsgaza ins Spiel gebracht wird, beschreibt Bessaiso als „so schwach
       wie nie zuvor“. Das Schweigen von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in
       der aktuellen Situation ist bezeichnend.
       
       Seit dem 7. Oktober hat der Politiker, der auch den Vorsitz der
       Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO sowie die Führung der
       regierenden Fatah-Partei innehat, die Hamas nicht verurteilt. In Ramallah
       fürchte man, den letzten Rest Legitimität zu verlieren, heißt es aus
       Diplomatenkreisen: In den Straßen des Westjordanlands wehe der Wind für die
       Hamas.
       
       Jüngste Umfragen des palästinensischen PSR-Instituts zusammen mit der
       deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung stützen diese Annahme. Demnach hat sich
       die Unterstützung für die Hamas im Falle von Wahlen im Westjordanland seit
       dem 7. Oktober verdreifacht – auch wenn sie weiterhin bei weniger als 50
       Prozent liegt.
       
       Dafür fordern mittlerweile rund 90 Prozent der Befragten den Rücktritt von
       Abbas. Das bedroht ein politisches System, in dem der Machterhalt einer
       intransparenten Elite längst das oberste Ziel ist. Rund 70 Prozent der
       Bevölkerung sind unter 30 und haben noch nie in ihrem Leben gewählt.
       Dagegen haben sich in der Vergangenheit immer wieder Menschen aufgelehnt.
       
       Nach dem Tod des Abbas-Kritikers Nizar Banat 2021 in Polizeigewahrsam waren
       tausende Palästinenser gegen die PA auf die Straße gegangen. Bessaiso
       schrieb damals: „Meinungsunterschiede sind keine Krankheit, keine Gefahr im
       Verzug und keine Rechtfertigung für Blutvergießen.“ Kurz darauf wurde er
       von Abbas persönlich entlassen.
       
       Vor diesem Hintergrund hat sich in den vergangenen Jahren vor allem die
       junge Generation radikalisiert. Anfang 2022 verübten junge Palästinenser
       eine Reihe von Terroranschlägen in israelischen Städten.
       
       Die israelische Führung antwortete mit einer Strategie, die in
       Sicherheitskreisen als „Rasenmähen“ bezeichnet wird: Weitreichende
       Festnahmen sollen die Fähigkeiten der militanten Gruppen minimieren.
       Israelischen Behörden zufolge wurden dadurch in den vergangenen Jahren
       zahlreiche Anschläge verhindert. Doch auch hunderte Palästinenser wurden
       getötet. Zahlreiche junge Menschen schlossen sich bewaffneten Gruppen an.
       
       Einer von ihnen ist Assem, der seinen echten Namen nicht nennen will. An
       diesem Freitag Anfang Dezember beobachtet der Anfang 20-Jährige aus dem
       Schutz einer Gasse des Flüchtlingslagers von Tulkarem die Zufahrtsstraße
       zum Camp. Er trägt eine olivgrüne Weste mit dem Abzeichen der fatah-nahen
       Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden. Um seine Schultern hängt ein M16-Sturmgewehr.
       „Wenn sie uns verhaften, erschießen und unsere Häuser abreißen, will ich
       mich verteidigen“, sagt er. Erst vor zwei Nächten habe die Armee das Camp
       gestürmt und sieben Menschen festgenommen.
       
       Er sehe keine Alternative zu den Waffen, sagt Assem, der wie viele im
       Flüchtlingslager die Schule vorzeitig abgebrochen hat. Er wolle ein
       besseres Leben für seine künftige Familie, ohne all die Zerstörung und
       Gewalt. „Aber du kommst da rein wegen dem, was du erlebst“, sagt er. Auf
       das Magazin seiner Waffe hat er das Foto eines jungen Mannes geklebt.
       „Dschihad“ aus der Tulkarem-Brigade sei am 6. November von einem Soldaten
       erschossen worden.
       
       „Der 7. Oktober war nur eine Frage der Zeit“, meint Assem. Trotzdem ist er
       selbst dem Ruf der Hamas nicht gefolgt, sich der „Operation Al-Aksa-Flut“
       anzuschließen. „Ich kämpfe hier, nicht in Tel Aviv oder Haifa.“ Die Taten
       der Hamas heißt er gut: Deren Strategie sei „der richtige Weg zur Befreiung
       des palästinensischen Volkes“.
       
       Ibrahim Dalalsha, der Direktor des palästinensischen Thinktanks Horizon
       Center, beobachtet die Radikalisierung mit Sorge und Verständnis zugleich.
       „Der Krieg hat zu schnell und zu heftig begonnen, um den Palästinensern die
       Chance zu geben, sich auf Israels Seite zu stellen“, sagt er. Der Strom an
       Bildern aus Gaza, von unter Trümmern begrabenen Familien, lasse vielen
       emotional keinen Raum, die Hamas-Massaker überhaupt noch zu sehen.
       
       Von Dalalshas Büro im fünften Stock eines Hauses in Ramallah fällt der
       Blick auf Büros internationaler Organisationen und Fahrzeuge des
       Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. „Nach dem Ende des Krieges wird
       die Rationalität zurückkehren und die Unterstützung für die extremistischen
       Gruppen zurückgehen“, sagt der Anwalt, der rund zwanzig Jahre lang die
       US-Regierung und die PA beraten hat. Doch Israel müsse akzeptieren, dass
       sich die Ideologie der Hamas nicht militärisch zerstören lässt.
       
       Der Großteil der Palästinenser sei weder extrem religiös noch gegen eine
       Anerkennung Israels, sondern fordere ein Ende der Besatzung und die
       Unabhängigkeit. Die Fatah habe seit der Machtübernahme durch die Hamas in
       Gaza vor siebzehn Jahren auf Gewaltlosigkeit und Verhandlungen gesetzt,
       damit aber kaum etwas erreicht. „Netanjahu hat die PA jahrelang
       geschwächt“, sagt Dalalsha. „Der ehemalige US-Präsident Trump hat sie dann
       vollends außen vor gelassen, als er die Verhandlungen mit arabischen
       Staaten über eine Normalisierung mit Israel ganz ohne die Palästinenser
       führte.“
       
       Die Hamas hingehen setze zur Erreichung der Unabhängigkeit auf Gewalt und
       sei damit in den Augen vieler Palästinenser schlicht erfolgreicher. „Sie
       haben 2006 die Wahlen in Gaza gewonnen, weil sie den israelischen Abzug und
       die Räumung der Siedlungen ein Jahr zuvor als eigenen Erfolg verkaufen
       konnten“, sagt Dalalsha.
       
       Seine Hoffnung liegt in einer technokratischen Regierung, die einen
       Mittelweg findet. Die palästinensische Gesellschaft sei gut ausgebildet, es
       gebe eine große Zivilgesellschaft und Menschen, aus denen sich eine neue
       Führung bilden lasse. Voraussetzung sei eine Handreichung für gemäßigte
       Palästinenser durch die Aufhebung von Einschränkungen sowie ein glaubhafter
       Weg zur Unabhängigkeit. Dann sei es möglich, den Kreislauf der Gewalt zu
       beenden.
       
       Wenige Minuten vom Horizon Center entfernt liegt die Muqataa, der Sitz von
       PA-Präsident Abbas. Anzeichen auf den Wandel, auf den Dalalsha hofft, gibt
       es bisher kaum. Seit Kriegsbeginn wurden die internationalen Staatsgäste
       hier empfangen, von US-Außenminister Antony Blinken bis zum französischen
       Präsidenten Emmanuel Macron.
       
       Doch selbst wenn die PA in Gaza nach einer Übergangsphase eine Rolle
       übernehmen könnte: Abbas ist 88 Jahre alt, immer wieder machen Gerüchte
       über seinen Gesundheitszustand die Runde. Es droht ein politisches Vakuum.
       Mögliche Nachfolger wie Hussein Al-Sheikh, Mohammad Schtajjeh oder Mohammed
       Dahlan haben kaum mehr Rückhalt in der Bevölkerung als Abbas selbst.
       Oppositionelle Stimmen gibt es so gut wie keine. Marwan Barghuthi, der
       Einzige, der fraktionsübergreifend Unterstützung genießt, sitzt eine
       mehrfach lebenslängliche Haftstrafe wegen der Beteiligung an mehreren
       Terroranschlägen ab.
       
       Israels Regierungschef Netanjahu hat vergangene Woche erneut klargemacht,
       dass er derzeit keine Rolle der PA in Gaza sieht: „Gaza wird weder Hamastan
       noch Fatahstan“, erklärte er entgegen den ausdrücklichen Wünschen der USA,
       Israels wichtigsten Verbündeten.
       
       Israel wirft der Palästinensischen Autonomiebehörde unter anderem vor,
       Familien von Attentätern finanziell zu unterstützen. Israel werde die
       Kontrolle über die Sicherheit in Gaza behalten, „denn wir haben gesehen,
       was passiert, wenn wir es nicht tun“. Nach einer Lösung klingt das nicht.
       
       22 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Wellisch
       
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