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       # taz.de -- Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“: Frühlingserwachen und Totenglocke
       
       > David Böschs Inszenierung von Grigori Frids „Das Tagebuch der Anne Frank“
       > an der Staatsoper Hamburg verbindet den Holocaust mit
       > Teenager-Lebenswelt.
       
   IMG Bild: „Anne Frank“ in der Staatsoper Hamburg: Grigori Frids expressive Musik schafft Raum für Gefühle in bedrückendsten Verhältnissen
       
       Oper? Nice! Das ist doch dieses klangprogressive Theatergenre für junge
       Menschen in lässigem Freizeitlook, wo vor allem Themen behandelt werden,
       die Teenager gerade glühend beschäftigen. So denkt niemand. Das muss sich
       ändern. Daher inszeniert beispielsweise David Bösch Kurzopern als „Graphic
       Novel“, wie er es nennt, für ein nachwachsendes Publikum an der Staatsoper
       Hamburg.
       
       Nach dem triumphalen Genremix aus Film, Comic und eben Oper mit Udo
       Zimmermanns Werk zum NS-Widerstand, „Die weiße Rose“, widmet er sich nun
       Grigori Frids 1969 entstandener Mono-Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“.
       Mit ihr kann der Regisseur neben dem Judenhass der Nationalsozialisten auch
       das an Begehren und Nöten reiche Frühlingserwachen der [1][Pubertät]
       fokussieren.
       
       Emotionale Aufwallungen wie auch seelische Abgründe einer
       Coming-of-age-Story werden in Böschs Regie hörbar. Die Bühne ist ausgelegt
       und tapeziert mit vergrößerten Seiten des Tagebuchs.
       
       Ein Pop-up-Bilderbuch ermöglicht, Annes beengte Handlungsorte im und am
       Amsterdamer Hinterhaus Prinsengracht Nr. 263 aufzublättern.
       Videoprojektionen kommentieren das Geschehen (Ausstattung: Patrick Bannwart
       und Falko Herold).
       
       So marschieren Scherenschnittfiguren mit Hitlergruß durch die Szenen, ein
       Hakenkreuz schwingt wie der Klöppel eine Totenglocke. Animationen
       kommunizieren mit Wochenschaubildern und Rechtsvorschriften des
       [2][NS-Staats] werden eingesprochen, um Annes Situation zu verdeutlichen.
       Manchmal leuchten auch verschwiegene Gedanken der Protagonistin auf.
       
       Sopranistin Olivia Warburton ist ein Glücksfall für die Inszenierung. Sie
       erinnert mit schwarzer Perücke an die ikonischen Fotos von [3][Anne Frank]
       und bewegt sich schauspielerisch überzeugend zwischen kindlicher
       Lebensfreude, vernunftklarer Nachdenklichkeit und heranwachsender
       Depression. Mit einer Puppe spielt sie auch Vater und Tochter beim
       Spazierengehen, Kuscheln und Wegdrücken der alltäglichen Schrecken. Ängste
       um Entdeckung und Erschießung gewinnen bedrückende Präsenz. Bedrohliche
       Karikaturen von Menschen mit Lupe werden eingeblendet. Die Musik tut ihr
       Übriges, Gefährdung in Klang zu übersetzen.
       
       Annes ins Freie strebende Körpersprache sinkt immer wieder in sich zusammen
       und der Kopf zwischen die Schultern, als müsse sie sich wegducken vor der
       patrouillierenden Gestapo. Einmal hält sie sich die Finger wie eine Pistole
       an die Schläfe und räsoniert, ob es nicht besser wäre, gar nicht als so zu
       leben. Die Regie tröstet und spendiert Anne schöne Erinnerungen in Wort und
       Bild an die sorglose Schulzeit sowie ein Poster Charlie Chaplins.
       
       Freudig imitiert sie den Watschelgang des Stummfilmkomikers und darf in
       einer discoglitzernden Revuefantasie das von ihm komponierte „Smile“
       singen. Schließlich toben noch bisher unbekannte Regungen angesichts der
       Jungswelt los – Anne schwärmt herzpochend vom mitversteckten Peter. Olivia
       Warburton singt, als würden Erste-Liebe-Schmetterlinge in ihrem Bauch
       flattern und ein „großes Verlangen“ herbeikitzeln.
       
       Aber die Zeit der NS-Barbarei ist dafür nicht gemacht. Mehr und mehr prägen
       Regenprojektionen die Atmosphäre. Mal weint der Himmel Wassertropfen, mal
       fallen Leichen, Bomben oder rote Farbtupfer als Symbol für die anrückenden
       russischen Soldaten herab. Am Ende, nach Annes Verhaftung und Deportation
       ins KZ Bergen-Belsen, sind es Haare kahlgeschorener Häftlinge, die
       niedergehen.
       
       Die neun unprätentiös an der Bühnenseite präsenten Musiker spielen unter
       Volker Kraffts Leitung präzise Grigori Frids expressionistisch düstere
       Auseinandersetzungen mit Kompositionstechniken des 20. Jahrhunderts. Bösch
       setzt sie rhythmisch aufwühlend wie Filmmusik ein, so dass sie nicht als
       hehre Kunstbehauptung ausgestellt sind, sondern als Mittel der
       Emotionalisierung funktionieren. Das ist weit mehr als nur nice: Oper, die
       ihr Publikum erreicht, ohne sich ihm anzubiedern.
       
       9 Apr 2024
       
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