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       # taz.de -- Irina Scherbakowa über Lage in Russland: „Krieg ist Putins politisches Kapital“
       
       > Trotz der über 300.000 gefallenen russischen Soldaten bleibt die
       > Unterstützung für Putin groß. Die Historikerin Irina Scherbakowa im
       > Gespräch.
       
   IMG Bild: Die Autorin und Historikerin Irina Scherbakowa, hier bei einer Lesung in Dresden
       
       taz: Mit dem Winter nehmen die russischen Angriffe auf die Ukraine zu. Sind
       wir an einem kritischen Punkt des Konflikts angelangt, Frau Scherbakowa? 
       
       Irina Scherbakowa: Nein, das glaube ich nicht. Natürlich nehmen die
       Attacken an manchen Orten, zum Beispiel um das Donbass-Gebiet, zu. Aber ich
       habe überhaupt nicht das Gefühl, dass es zu irgendeiner Wende kommen kann.
       Im Gegenteil, es kommt auch schlechtes Wetter und Winter dazu und das
       verhindert immer die Kriegshandlungen. Eher glaube ich, dass wir jetzt so
       etwas wie einen eingefrorenen Konflikt erleben werden.
       
       Andrij Jermak, Chef des Präsidialamtes der Ukraine, hat gesagt, das Jahr
       2024 wird entscheidend sein. Glauben Sie das auch? 
       
       Ich hoffe es. Aber das hängt von der Frage ab, wie standfest die Ukraine
       noch ist und wie viel Potenzial man hat. Inzwischen hat sich
       herausgestellt, dass Putin noch Möglichkeiten hat, sowohl wirtschaftliche
       als auch menschliche, diesen Krieg fortzusetzen. Ich denke also, das hängt
       alles nun von der westlichen militärischen Unterstützung ab.
       
       Halten Sie Friedensverhandlungen mit dem Kreml-Chef in irgendeiner Form
       überhaupt für möglich? 
       
       In meinen Augen sind Verhandlungen nicht möglich. Ich glaube, das sind
       [1][falsche westliche Erwartungen] und vorprogrammierte Enttäuschungen.
       Auch für Putin wären Friedensverhandlungen jetzt kein politischer Gewinn.
       Man muss ja bedenken, dass er sich schon im Wahlkampf befindet, im nächsten
       Jahr sind seine Wahlen. Ich denke, es ist für ihn politisch besser, diesen
       Krieg irgendwie weiterzuführen, um den Leuten immer weiter zu versprechen,
       es kommt zu einem Sieg. Krieg ist für ihn heute sein politisches Kapital.
       Das ist leider die traurige Realität in der Ukraine.
       
       Realität ist auch, dass bis dato mehr als 300.000 russische Soldaten
       gefallen sind. Dennoch scheint in Russland die Unterstützung für Putin
       nicht nachzulassen. Wie ist das zu erklären? 
       
       Dazu gibt es verschiedene, auch sehr widersprüchliche Umfrageergebnisse in
       Russland. Über die Hälfte der Befragten nämlich sagen, sie wollen den
       Frieden. Andererseits bleibt die Unterstützung für Putin nach wie vor
       ziemlich groß, und zwar weil die Menschen keinen Ausweg aus der Situation
       sehen. Es gibt also sehr wenig Menschen in Russland, die diesen Krieg
       bejubeln. Aber bei den Menschen gibt es auch die Hoffnung, dass es mit
       Putin irgendwie weiter so stabil wie vor dem Krieg bleibt. Das ist aber
       eine Illusion.
       
       Das heißt, die Sanktionen haben die wirtschaftliche Lage in Russland nicht
       so stark getroffen? 
       
       Die Situation in Russland hat sich schon in mancher Hinsicht
       verschlechtert. De facto kommt aber das Geld vom Öl nach wie vor ins Land
       und die Rüstungsindustrie wird weiter ausgebaut. Da braucht man noch
       Arbeitsplätze und die Löhne werden erhöht. Es ist noch viel Geld im Land.
       Auch die Menschen, die sich für die Armee rekrutieren lassen, kriegen
       ziemlich viel Geld.
       
       Welche Rolle [2][spielen Propaganda und Desinformation für die Stabilität]
       des Regimes in Moskau? 
       
       Es gibt kein einheitliches Bild, warum überhaupt dieser Krieg geführt wird,
       [3][und auch die Propaganda ist in sich widersprüchlich.] Von Anfang an hat
       man mit dem Narrativ gearbeitet, die in der Ukraine seien Nazis, korrupte
       Faschisten und so weiter. Andererseits sagt man ja, dass man nicht gegen
       die Ukraine kämpft, sondern gegen den Westen und die Nato. Abgesehen von
       jeglicher Hetze und Fake News ist das Wichtigste, den Leuten permanent zu
       erzählen: Wir werden angegriffen. Wir Russen sind die Opfer des Westens.
       Der Westen will uns erobern und wir müssen uns verteidigen. Ja, wir sind
       von Feinden eingekreist. Und ich glaube, das wirkt und generiert die fatale
       Unterstützung für Putin.
       
       Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert, dass Putin einen der Mörder von
       Anna Politkowskaja begnadigt hat? 
       
       Leider ist das nicht der einzige Fall. Es sind viele Menschen von Putin
       begnadigt worden, die ganz schreckliche Serienmörder sind. Es gibt ja
       ehemalige Mörder, die von der Front zurückkommen und mit dem Töten
       weitermachen! Das ist die schlimme Botschaft, dass man in diesem Land die
       Strafe nicht ernst nehmen kann. Es gibt kein Recht in „Putins Land“. Das
       Recht existiert überhaupt nicht in Russland, und das nicht nur für die
       Regimekritiker.
       
       Ist es möglich, dass der Krieg zu Ende geht und Putin weiter Chef im Kreml
       ist? 
       
       Ich glaube, dass eine deutliche Niederlage in der Ukraine eine Krise in
       Moskau bewirken könnte. Aber so wie es aussieht, bei diesem dauernden und
       zermürbenden Krieg, könnte es sein, dass Putin an der Macht bleibt. Ich
       sehe schon Risse im System, aber zugleich sehe ich momentan nicht den
       Willen von genügend Menschen, Putin zu entmachten. Vor allem sehe ich das
       nicht bei der sogenannten Elite oder bei denen, die in Russland als Elite
       bezeichnet werden.
       
       Putin wird also im März bei der Präsidentschaftswahl wieder kandidieren. 
       
       Ja, das ist absolut sicher. Er wird es wahrscheinlich in seiner Ansprache
       im Dezember verkünden. Es werden gefälschte Wahlen sein, ganz klar. Aber er
       wird sich weiter profilieren als der Verteidiger Russlands, als derjenige,
       der für den Schutz des Landes und des russischen Volkes steht. Das wird er
       den Menschen wieder so verkaufen und hinzufügen, dass es heute für Russland
       gar keine Alternative zu ihm und seinem Krieg gibt.
       
       7 Dec 2023
       
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