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       # taz.de -- Roma-Projekt in Griechenland: Roma Lives Matter
       
       > Sie stehen noch immer am unteren Ende der sozialen Leiter Griechenlands.
       > Das Theaterstück „Romaland“ will Rom*nja mehr Sichtbarkeit verschaffen.
       
   IMG Bild: Das Theaterstück „Romaland“ setzt auf die Kraft persönlicher Geschichten
       
       „Take a knee, not a life“ steht neben einer knieenden Figur im
       Infografikstil an einer Hauswand an der Platia Amerikis, einem Platz im
       nördlichen Zentrum von Athen. Es ist eine Gegend, in der viele Geflüchtete
       und nichtregistrierte Menschen, unter anderem große exilafrikanische
       Communities, wohnen.
       
       Die Wandmalerei wurde in der Zeit nach der Ermordung George Floyds
       angebracht, als es auch in Griechenland
       [1][Black-Lives-Matter-]Solidaritätsdemos gab. Dennoch hat ein Polizist
       wieder einen tödlichen Schuss zu verantworten. Er traf Mitte November einen
       17-Jährigen. Das Opfer war jedoch kein Afro-Grieche. Der Jugendliche war
       der dritte Roma, der in den letzten drei Jahren Polizeigewalt zum Opfer
       fiel. Alle drei Fälle verliefen ähnlich: Kleinere Delikte in Zusammenhang
       mit Ungehorsam und Verfolgungsjagden führten zum tödlichen Schuss.
       Landesweite Demos einer solidarischen Bevölkerung blieben aus.
       
       In diese Leerstelle springt derzeit die Kunst: Im vergangenen Jahr verlegte
       [2][der griechische Beitrag zur Biennale von Venedig] von Loukia Alavanou
       den Ödipus-Mythos in VR-Optik in eine Romasiedlung am Rand einer
       Mülldeponie. Im November wurde er in Athen wieder aufgenommen.
       
       Gleichzeitig ging das Dokumentartheaterstück „Romaland“ des in Deutschland
       und Griechenland produzierenden Regisseurduos Anestis Azas und
       [3][Prodromos Tsinikoris] in Premiere. Fast, als hätte das Team eine böse
       Vorahnung gehabt. Die in beiden Fällen fördernde Onassis-Stiftung – die in
       Griechenland am besten ausgestattete Förderinstitution für die Verbindung
       von Kunst und gesellschaftspolitische Anliegen – unterstützte den Fokus
       zusätzlich durch das Streaming eines Films der Regisseurin Marina Danezi
       und Gespräche.
       
       Emotionaler Moment 
       
       „Listen up, balamo / this world is not just for you / We’re God’s children
       too“, rappen die fünf Darsteller:innen im letzten Drittel von
       „Romaland“. „Balamo“ ist das Romani-Wort für alle Nicht-Roma. Es ist ein
       emotionaler Moment, der das Publikum so mitnimmt, dass es in donnernden
       Solidaritätsapplaus ausbricht.
       
       Selbstverständlich ist das nicht. Im Vorfeld des Athener Theaterabends
       hagelte es Hatespeech an die Adresse der Onassis-Stiftung. Roma stehen,
       trotz langjähriger Integrationsförderung aus EU-Geldern, auf der sozialen
       Leiter immer noch ganz unten in Griechenland, werden stigmatisiert und
       stereotypisiert.
       
       Im Straßenbild sind sie mit einigen ihrer typischen Beschäftigungen sehr
       präsent: als Müll- und Schrottsammler:innen, als durch Supermärkte
       ausgebootete Obst- und Gemüsehändler:innen sowie als Bettler:innen.
       Drogenhandel und Diebstahl gehören zu den für die übrige Bevölkerung
       problematischeren Überlebensstrategien. In der Innenstadt wohnen Roma in
       kleineren Zusammenschlüssen oder individuellen Wohnungen, meist im
       Souterrain, in den Außenbezirken oft auch in Baracken- und Zeltlagern ohne
       Elektrizität und fließendes Wasser. Ihre Schulbildung ist gering, immer
       noch gilt der weitaus größte Teil als nicht alphabetisiert. Ihre Anzahl
       wird (wahrscheinlich bescheiden) auf zwischen 150.000 und 300.000
       geschätzt, die der Gesamtbevölkerung Griechenlands liegt bei 10 Millionen.
       
       Die fünf sich selbst spielenden Darsteller:innen von „Romaland“ kommen
       aus unterschiedlichen Teilen des Landes. Während die beiden Männer sich
       trotz Diskriminierungserfahrungen eine relativ stabile Basis-Existenz (wozu
       Kellnern in 12-Stundenschichten zu 15 Euro Tagessatz gehört) aufgebaut
       haben, ist es für die Frauen schwieriger – auch weil sie Gewalt von außen
       wie von innen, beispielsweise häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.
       
       Mangelnde Schulbildung 
       
       Von EU-Programmen wie JustRom, das nicht ins Bildungssystem integrierten
       Frauen den Zugang zu ihren Rechten erleichtert, konnten sie offenbar noch
       nicht profitieren. Zwei der Romni haben keine Schulbildung, obwohl eine in
       ihrer Zeit im Gefängnis ausdrücklich darum gebeten hat, die dritte wurde
       als Baby an ein kinderloses Paar zur Adoption verkauft und ist bis 14 als
       „balamo“ aufgewachsen. Alle haben sie jedoch auch extrem rassistisch
       motivierte Gewalt gegen männliche Familienmitglieder erlebt.
       
       Was alle Darsteller:innen verbindet, ist, dass sie ihre Geschichten
       erzählen wollen. Dass sie es mit einer – sicherlich auch vom Regieduo
       herausgekitzelten – Mischung aus Selbstironie und Ernsthaftigkeit tun. Und
       dass sie Sehnsucht danach haben, sich positiv sowohl mit sich selbst zu
       identifizieren als auch als Teil der griechischen Gesellschaft.
       
       Avraam Goutzeloudis, der zugleich Schauspieler und Regie-Assistent von
       „Romaland“ ist, hat sich den Schritt getraut, als erklärter Roma-Künstler
       innerhalb der griechischen Kulturszene zu bestehen. Auch Melpo Saini, die
       als Baby adoptiert wurde, hat einiges erreicht: Als 14-Jährige zog sie zu
       ihren leiblichen Eltern, dann wieder zurück. Lieben tut sie beide, und
       beide Seiten akzeptieren ihre zwei Identitäten.
       
       Nachvollziehbare Mechanismen 
       
       Um eine Art Versöhnungstransfer scheint es auch dem Stück selbst zu gehen.
       Es setzt dabei auf die Kraft persönlicher Geschichten, die Stereotype nicht
       unbedingt vergessen machen, sondern vielmehr auf nachvollziehbare
       gesellschaftliche Mechanismen zurückführen: Dass Menschen eine Bleibe,
       sanitäre Anlagen, Bildung und Wirtschaftskraft für gesellschaftliche
       Teilhabe brauchen, und was passiert, wenn sie es nicht haben, ist alles
       andere als ein Geheimnis.
       
       Ebenso wenig, dass (Kultur-)Leistungen Begegnungen auf Augenhöhe brauchen,
       um wahrgenommen werden. Geheimnisvoll bleibt dagegen die komplexe Kunst des
       gegenseitigen Vertrauens. „Romaland“ ist eine der seltenen Enklaven, in
       denen es entstanden ist. Nun geht es für die Bewohner:innen auf
       Europatour. Erste Station im Februar ist, falls [4][der niederländische
       Premieranwärter Geert Wilders] bis dahin die Grenzen nicht schließt,
       Amsterdam.
       
       22 Dec 2023
       
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