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       # taz.de -- Soziologe über Argentiniens Machtwechsel: „Die enorme Verdrehung der Dinge“
       
       > Javier Milei tritt die Präsidentschaft in Argentinien an – am Jahrestag
       > der Rückkehr zur Demokratie. Das alarmiert, sagt Soziologe Juan Carlos
       > Torre.
       
   IMG Bild: Nach dem Sieg bei der Stichwahl versammelten sich Mileis Anhänger am 19. November in Buenos Aires
       
       taz: Herr Torre, am Sonntag begeht Argentinien den 40. Jahrestag der
       Rückkehr zur Demokratie. Gleichzeitig tritt der neue ultrarechte Präsident
       [1][Javier Milei] sein Amt an. Sind beide Ereignisse Anlässe zum Feiern? 
       
       Juan Carlos Torre: Nicht alle haben 1983 von einer Rückkehr zur Demokratie
       gesprochen. Ein bekannter Politikwissenschaftler stellte die Frage, zu
       welcher Demokratie wir eigentlich zurückkehren würden? In der Zeit vor der
       Militärdiktatur war die Demokratie ziemlich armselig. Es gab zwar Wahlen,
       an denen aber beispielsweise die peronistische Partei nicht teilnehmen
       durfte. Deshalb wurde die Definition ‚Übergang vom Autoritarismus hin zur
       Demokratie‘ geprägt, und nicht von einer Rückkehr zur Demokratie
       gesprochen. Auch ich benutze diese Definition.
       
       Argentinien blickt auf eine lange Geschichte zurück, in der sich zivile
       Regierungen und Militärregime abwechselten. Sind es also 40 Jahre
       Demokratie oder 40 Jahre ohne Staatsstreich? 
       
       Es geht Hand in Hand. Ob man es wollte oder nicht, man wusste, dass in
       einer schwierigen oder chaotischen Situation das Militär eingreifen würde.
       Doch der Staatsterrorismus der letzten Militärdiktatur und der Krieg um die
       Malwinen haben das Militär aus den Rennen genommen. Seitdem gab es
       Situationen, die alle Elemente für einen Militärputsch aufwiesen, aber da
       ein Militärputsch als Mittel nicht zur Verfügung stand, musste die Politik
       eine Lösung finden.
       
       Welche Situationen würden sie als putschwürdig bezeichnen? 
       
       Die tiefen Krisen von 2001 und aktuell 2023 waren potenziell günstige
       Situationen für einen Militärputsch. Das wirklich Neue daran ist, dass sie
       ohne einen Militärputsch vorübergingen. Wenn ich mir also die letzten 40
       Jahre anschaue, dann stelle ich zwei Dinge fest. Die Militärs sind in den
       Kasernen und es gibt freie Wahlen, deren Ergebnisse anerkannt werden. Das
       sind zwei feste Säulen unserer heutigen Demokratie.
       
       Wie fügt sich Argentiniens Übergang zur Demokratie in den regionalen
       Kontext ein? 
       
       Wenn man einen vergleichenden Blick auf Lateinamerika wirft, kann man
       verschiedene Wellen erkennen. In den 1970er Jahren gab es nur zwei Länder
       in Lateinamerika, in denen keine Diktatur herrschte. In den 1980er Jahren
       kann man eine Welle hin zu demokratischen Institutionen erkennen. Die
       Länder schauten aufeinander, schöpften aus den demokratischen Entwicklungen
       beim Nachbarn Hoffnung und Kraft. In einem Land ging es schneller, in Chile
       zum Beispiel dauerte es länger. Noch bis vor kurzem hatten wir eine weitere
       Welle, die sich nach links wandte, mit Hugo Chávez in Venezuela, Evo
       Morales in Bolivien, Lula da Silva in Brasilien oder dem Ehepaar Kirchner
       in Argentinien. Heute gibt es wieder eine Bewegung, aber mit einer
       entgegengesetzten Tendenz.
       
       Dies gilt für den marktradikalen Javier Milei, der am Sonntag als neuer
       Präsident vereidigt wird. Ist Milei eine Gefahr für die Demokratie? 
       
       Es herrscht eine Art Alarmzustand, und das zu Recht. Schließlich hat Milei
       ziemlich verrückte Dinge gesagt. Derzeit ist eine Mutation bei ihm zu
       beobachten. Er mäßigt seine Äußerungen und scheint sich von einem
       politischen Agitator zu einer Person zu wandeln, die sich bewusst ist, dass
       sie bald in Regierungsverantwortung steht.
       
       Wer Mileis cholerischen Charakter kennt, wird schnell ins Zweifeln kommen. 
       
       Ich bin auch skeptisch, ob ihm der Übergang zu einer moderateren Person
       gelingen wird. Milei ist ein sehr gläubiger Mensch. Er glaubt fest daran,
       dass der Markt die Lösung für alles ist und, dass er weiß, wo es lang geht.
       Wer so fest glaubt und zudem in einer Freund-Feind-Welt lebt, verliert
       schnell das Moderate, wenn er auf Hindernisse stößt. Ich befürchte, dass er
       diejenigen, die sich seinen Ideen widersetzen, als Landesverräter
       beschuldigen wird.
       
       Aber er wurde mit Stimmen aus allen politischen Lagern gewählt. Wie konnte
       das geschehen? 
       
       Das ist die große Neuigkeit. Die unteren Schichten waren immer
       peronistisch, egal welche Politik der Peronismus verfolgt hat. Peronist ist
       man nicht, man fühlt sich als solcher. Aber der Peronismus hat nicht mehr
       diese starke Anziehungskraft. Zum ersten Mal fühlen sich viele Menschen
       nicht mehr peronistisch und haben diese große Glaubensgemeinschaft
       verlassen. Denn da kommt ein Priester wie Milei und sagt in aller Ruhe,
       ‚soziale Gerechtigkeit ist ein Betrug‘. Und er sagt, man solle den Artikel
       14ff der Verfassung abschaffen, in dem das Recht auf Arbeit, Recht auf
       Altersversorgung, Mitbestimmungsrecht und das Recht auf Sicherheit am
       Arbeitsplatz geregelt ist. Selbst in liberalen und konservativen Staaten
       gibt es ein Plätzchen für solche Garantien.
       
       Und das hat es ihm ermöglicht, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen? 
       
       Es ist die enorme Verdrehung der Dinge. Im Namen der sozialen Gerechtigkeit
       wurde eine Politik betrieben, die mit immer mehr Inflation bezahlt werden
       muss. Die Bilanz der kirchneristischen Regierung ist so schlecht, dass sie
       einen Milei an die Spitze gebracht hat. Ein konservativer Kolumnist
       schrieb, ‚Milei wurde aus einer Rippe von Cristina Kirchner erschaffen‘.
       Tatsache ist, Milei ist kein außerirdisches Phänomen.
       
       Tatsache ist auch, dass nach vierzig Jahren Demokratie über 40 Prozent der
       Bevölkerung verarmt sind. 
       
       Ich unterscheide zwischen den Armen und Armut. Armut ist ein dauerhafter
       Zustand, der sich über Generationen hinweg reproduziert. Im Jahr 1983 waren
       20 Prozent der Bevölkerung arm. Damals haben wir erstmals erkannt, dass es
       Armut gibt. Das war neu und ein Skandal. Wir hätten nicht gedacht, dass wir
       wie Mexiko oder Brasilien sein würden. Dazu kam die Aufteilung der
       Arbeitswelt in einen Sektor der formellen Arbeitenden, vertreten durch die
       Gewerkschaften, geschützt durch die Sozialversicherung und einen anderen
       Sektor mit der sogenannten informellen Arbeit, der sich auf Arbeits- oder
       Lebensbedingungen beschränkte, die wir nicht kannten.
       
       Welche Folgen hatte die Teilung? 
       
       Das Besondere an der Lateinamerikanisierung Argentiniens ist, dass es sich
       um ‚mobilisierte Arme‘ handelt. Argentinien hat einen phänomenalen
       Organisationsgrad. In ganz Lateinamerika gibt es nur in Argentinien eine
       Piquetero-Bewegung mit einer Führungsstruktur. Sie kommt aus der Welt der
       Gewerkschaften. Wir haben heute Gewerkschaften für organisierte
       Beschäftigte und, wie ich es nenne, virtuelle Gewerkschaften für
       nicht-registrierte Beschäftigte. Während die Gewerkschaften mit den
       Arbeitgebern über die Lohnpolitik diskutieren, setzen sich die
       Nicht-Registrierten mit der Regierung zusammen und diskutieren über die
       Sozialpolitik. Die scheidende Regierung hatte für sie ein eigenes
       Ministerium eingerichtet. Das Sozialministerium ist voll von Chefs der
       sozialen Bewegungen.
       
       Und eines von den acht Ministerien, die Milei abschaffen will. 
       
       Dies ist eine der größten Herausforderungen für Milei. Er ist sehr sensibel
       für die Welt der Armen und die kommende Regierung hat sie auf ihrer Agenda.
       Milei hat schon mehrfach gesagt, dass kein Geld da ist, außer für das
       Ministerium für Humankapital, das er einrichten will und das sich um die
       Bedürftigsten kümmern soll. Ihnen soll weiterhin geholfen werden.
       
       Argentinien wurde weltweit für seine juristische Aufarbeitung der
       Menschenrechtsverbrechen der letzten Militärdiktatur gelobt. Die künftige
       Vizepräsidentin Victoria Villarruel wird von vielen als Verteidigerin eben
       dieser Militärdiktatur gesehen. Wird es ein Roll-Back geben? 
       
       Villarruel sagt, dass es damals ein Krieg war. Das ist die Position einer
       kleinen Minderheit. Dass sie heute eine Diskussion darüber auslösen kann,
       liegt an der Politisierung der Menschenrechte durch die
       Kirchner-Regierungen. Néstor Kirchner hatte es geschafft, den größten Teil
       der Menschenrechtsbewegung einzubinden. Mein Eindruck ist, dass Milei nicht
       sehr glücklich über seine Vizepräsidentin ist. Er will die Inflation
       bekämpfen und den Kapitalismus stärken. Eine Diktaturdebatte würde einen
       riesigen Konflikt lostreten, der in seinen Augen völlig unnötig wäre.
       
       10 Dec 2023
       
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