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       # taz.de -- Grönemeyer auf Berliner Weihnachtsmarkt: Überraschung am zweiten Advent
       
       > Sie kamen zum Glühweintrinken und sahen Herbert Grönemeyer. Ein
       > Eventbericht vom Lucia Weihnachtsmarkt in Berlin.
       
   IMG Bild: Er kam, sah und sang: Herbert Grönemeyer auf dem Berliner Lucia Weihnachtsmarkt
       
       Berlin taz | Prenzlauer-Berg, zweiter Advent, kurz nach halb sieben. Das
       Karussell steht still, Kameraleute haben sich in Stellung gebracht. Eine
       Ansammlung von Leuten, die gewittert haben, hier wird gleich was passieren,
       haben ihre Smartphones rausgeholt. Die Leute tuscheln, stellen sich auf die
       Zehenspitzen. Alle warten, ohne zu wissen, worauf. Eine, zwei, drei Minuten
       vergehen. Dann schwillt er an, der Chorgesang, und allen wird klar: Sie
       sind in einem Traum gelandet, und zwar in einem von Herbert Grönemeyer.
       
       „Nebel verfängt im Laternenlicht, ein Winternachtstraum, der auf der Stelle
       tritt“, stimmt der Überraschungsgast sein Lied „Kaltes Berlin“ an. An Ort
       und Stelle bleiben die Zuhörer:innen stehen. Manche schmunzeln darüber,
       Teil eines Auftritts zu sein, der inmitten des
       [1][Weihnachtsmarktgetümmels] so ernst ist. Schließlich ist das hier keine
       schnelle Nummer (von denen es auf Grönemeyers neuestem Album einige gibt),
       sondern eine Ballade, zu der bei einem Konzert alle rasch die Feuerzeuge
       rausholen würden. Nur darauf war hier niemand vorbereitet; keiner hat teure
       Tickets erworben und ist ewig Schlange gestanden.
       
       Das Gesangserlebnis Herbert Grönemeyer gibt's an diesem Sonntagabend gratis
       und ungefragt. Es ist so eindringlich, dass keiner dringend weg möchte.
       Sogar der Mann, der zwischendurch „Buh“ruft, bleibt bis zum Ende der
       Zugabe. „Digga, ikonisch“, raunt eine Teenagerin, als Grönemeyer sein
       Stimmvolumen bis zum Geht-Nicht-Mehr aufbläst- und in das „Aaaaaaaah“ des
       Engelschors hinein. Und während die sanfte Piano-Melodie aus den
       Lautsprechern perlt, stellt sich plötzlich ein ganz sonderbares Ortsgefühl
       ein.
       
       Am Kreuzpunkt zwischen Karussell und Nudelstand ist das Publikum plötzlich
       „im kalten Berlin“ gelandet und „vielleicht“, endet Grönemeyer „sind wir
       morgen längst nicht mehr hier“. Ob er damit auf die Sterblichkeit oder auf
       die Bedrohungslage durch Klimakrise und Rechtsruck anspielt – [2][gegen
       beides setzt er sich ein] – verrät er nicht. Denn er hält am Ende des Songs
       keine Rede, sondern liefert ein Bekenntnis: Das „B“ in Herbert stünde nicht
       nur für „Bobo“, sondern auch für „Berlin“, sagt er und stimmt eine Zugabe
       an.
       
       Bobo statt Bochum 
       
       Die Publikumsumfrage danach ergibt: Kerstin, die auf über zwanzig Konzerten
       und laut ihrem Mann zwischendurch zu Tränen gerührt war, findet ihn nicht
       Bobo-mäßig, sondern bodenständig, schließlich hätte er sich an einem
       Sonntagabend einfach mal so unter die Menge gemischt. Jonas und Micha
       wundern sich, dass Grönemeyer in Berlin und nicht in Bochum aufgetreten
       ist. Das ist die Stadt, nach der sein erstes Hit-Album benannt ist. Eine
       Gruppe Teenies, die ein Autogramm ergattert hat und ihn bis dato nicht
       kannte, verspricht: „Wir werden krasse Fans. Wir haben ihn auf Spotify
       geaddet“.
       
       Bei einem abschließenden Selfie-Zwischenstopp grüßt Grönemeyer die
       Mitarbeiterinnen seines Merch-Standes und erscheint plötzlich als Drilling.
       Seine Doppelgänger tragen Weihnachtsmütze und grinsen auf den Pullis der
       Verkäuferinnen. „Herbert!“, raunt eine vorbeilaufende Touristin mit
       rollendem „r“. Das Original wird, von Bodyguards umringt, aus der Hütte
       geschleust. Aber die Menge hat sich ohnehin längst aufgelöst und ist rasch
       zu den Ständen ausgeschwärmt.
       
       In einer Woche wird das filmische Dokument ihres kurzen Beisammenseins
       erscheinen. Dann wird der Auftritt eine gelungene PR-Aktion für den
       Single-Release von „[3][Kaltes Berlin]“ (prod. [4][Lucry & Suena]) gewesen
       sein. An diesem Sonntagabend ist der Auftritt aber erstmal eins:
       Anti-These, das „Kalte Berlin“ tritt immerhin gegen heißen Glühwein an.
       
       Trotzdem wirkt der Auftritt versöhnlich, spätestens als Grönemeyer im
       Refrain das lyrische Ich gegen ein „Wir“ austauscht. Ein Wir, das in eine
       Zukunft schaut, in der es „unser Berlin“ vielleicht nicht mehr geben werde.
       Grönemeyer versucht einen kollektiven Moment aus etwas zu stiften, das er
       als gemeinsamen Nenner ausmacht: Zukunftsangst. Dass die meisten Leute den
       Auftritt nicht als Stimmungskiller, sondern als schön empfinden, das ist
       wohl seine große Kunst.
       
       11 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.lucia-weihnachtsmarkt.de/
   DIR [2] /Groenemeyer-sorgt-fuer-Shitstorm/!5626199
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=P5o-w_be5KI
   DIR [4] https://www.youtube.com/channel/UCYsMWzU8Zt90n3etOY7HdYw
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lara Ritter
       
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