URI: 
       # taz.de -- Buch über Fortschrittsphilosophie: Gemachter Weltgeist
       
       > Gibt es überhaupt einen Fortschritt in der Geschichte? Die Philosophin
       > Rahel Jaeggi problematisiert in ihrem neuen Buch den Fortschrittsbegriff.
       
   IMG Bild: Weltgeist zu Pferde? Napoleon I. passiert die Truppen in der Schlacht von Jena am 14. Oktober 1806 (Gemälde: Horace Vernet)
       
       Vorige Woche noch hatte [1][Hegel hart gearbeitet, erschöpft hatte er das
       Manuskript für diesen epochalen Wälzer – die „Phänomenologie des Geistes]“
       – zur Post getragen, jetzt ist er Teil einer jubelnden Masse in der Jenaer
       Altstadt: Vorbei rauscht der französische Triumphzug, Napoleon voran.
       Euphorisiert schreibt Hegel einem Freund vom „wunderbaren Empfinden,“
       diesen Weltgeist zu Pferde selbst gesehen zu haben. Für Hegel ist Napoleon
       ein welthistorisches Individuum, das eigenhändig sozialen Fortschritt
       bringt.
       
       In [2][Rahel Jaeggis] fast überzeugendem neuem Buch „Fortschritt und
       Regression“ wird SED-Funktionär Günther Schabowksi zu einem ähnlichen
       Fortschrittstreiber erkoren. Am 9. November 1989 liest er, mit vielen
       „Ähhhs“ gespickt, im Drehstuhl der Pressekonferenz lümmelnd, seine alles
       verändernden Sätze ab. Welthistorische Individuen hatten schon bessere
       Zeiten.
       
       Zumindest eines eint den stolzen Napoleon und die Marionette Schabowski:
       Beide lösen soziale Probleme, wie Jaeggi mit Bezug auf Hegel und den
       amerikanischen Pragmatismus postuliert. Napoleon gibt Frankreich
       Bürgerrechte, Schabowski befreit die in der DDR Eingesperrten.
       
       Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie in Berlin, hat ein
       Programm: Ideen aus der Philosophiegeschichte retten, an deren Rettung kaum
       einer mehr glaubt. Das hat sie schon in ihrem ersten Buch gemacht, zum
       [3][Entfremdungsbegriff – bei Marx noch aufgeladen mit einer robusten
       Vorstellung der menschlichen Natur.]
       
       ## Machen Gesellschaften Fortschritte?
       
       In ihrem neuen Buch bemüht sich Jaeggi nun um die Rettung der
       Geschichtsphilosophie. Hoffnungslos verloren ist die Idee, dass unsere Welt
       sich ohne viel Zutun fortschrittlich weiterentwickelt. Aber „keine
       Geschichtsphilosophie ist … auch keine Lösung.“ Der Begriff des
       Fortschritts selbst ist problembehaftet. Gelingt es Jaeggi dennoch, ihn vor
       dem Müllberg der Begriffsgeschichte zu retten?
       
       „Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinne“, sagt Protagonist
       Ulrich in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Während Hegel
       Napoleon bejubelt, macht der preußische König das Gegenteil. Während wir
       heute Schabowski feiern, war Honecker sicher anders zumute. Ist Fortschritt
       also notwendigerweise relativ und damit untragbar als Kritikwerkzeug? Ja,
       Fortschritt auf ein bestimmtes Ziel hin ist ungeeignet, sagt Jaeggi. Wir
       brauchen einen anderen Fortschrittsbegriff, einen der kein Ziel ins Auge
       fasst, sondern einen Prozess als solchen evaluiert.
       
       „Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme“, schreibt Jaeggi.
       Vielleicht machen Gesellschaften also Fortschritte, wenn sie Probleme
       erfolgreich lösen? Allerdings muss man hier unterscheiden zwischen
       Problemen erster und zweiter Ordnung. Denn soziale Gefüge verändern sich
       ständig, sie sind „immer schon dynamische Gebilde“, sie reagieren konstant
       auf Probleme erster Ordnung. Gibt es eine Dürreperiode, spart man
       Getreide; ist ein Gasengpass zu erwarten, füllt man die Gasspeicher. Nichts
       davon ist Fortschritt oder auch nur sozialer Wandel – es ist business as
       usual.
       
       ## Ist der Weihnachtsmann echt?
       
       Aber stellen wir uns eine menschenverachtende Monarchie vor, die Getreide
       verprasst und exportiert, oder eine wirtschaftsfreundliche Regierungsform,
       die Gasunternehmen unerhörte Gewinne erlaubt, statt die Gasversorgung zu
       garantieren.
       
       In beiden Fällen sind soziale Gefüge aus spezifischen Gründen unfähig mit
       ihren Problemen erster Ordnung umzugehen, sie haben Probleme zweiter
       Ordnung: Probleme mit ihren sozialen, ökonomischen, und politischen
       Problemlösungsprozessen. Wenn sie diese Probleme – durch Abschaffung der
       Monarchie oder Gesetze zu mehr Wirtschaftskontrolle – nachhaltig lösen,
       dann, so Jaeggi, kann man von Fortschritt reden.
       
       Mit diesem prozessualen Verständnis – Probleme lösen statt Ziele anpeilen –
       versucht Jaeggi, die Rede vom Fortschritt zu retten. Aber geht das wirklich
       ganz ohne Werte, ausschließlich prozessbasiert? Ist es nicht auch schon
       eine Lösung, die Untergebenen einfach verhungern zu lassen?
       Selbstverständlich wissen wir heute, dass es eine schlechte, eine
       grauenvolle Lösung wäre. Aber sie ist eben nur deshalb schlecht, weil wir
       robuste Werte wie Gleichheit und Würde aller als Teil einer guten Lösung,
       als Teil unserer Ziele sehen.
       
       Dass Jaeggi diese Werte gerade nicht will, liegt daran, dass sie sich über
       die Zeit hin verändern. Es gibt nicht nur „Fortschritt hin zur Moral“
       sondern „Fortschritt in der Moral“. Untergebene verhungern zu lassen war
       nicht immer grauenvoll, einst war es ein Zeichen von Stärke und harter
       Hand. Man kann jetzt darauf beharren, dass die einstigen einfach die
       falschen Werte waren.
       
       ## Wer die wahren Werte kennt
       
       Philosophisch wird das Argument hier stumpf – was macht unsere jetzigen
       Werte zu den richtigen, und woher wissen wir das? Und politisch ist die
       Sturheit eh zahnlos, denn wer lässt sich schon von einem überzeugen, der
       einfach behauptet, die wahren Werte zu kennen?
       
       Aber, so kann man zurückfragen, wer lässt sich schon von der Behauptung
       überzeugen, dass die favorisierte Problemlösung zweiter Ordnung unpassend
       war? Jaeggi bringt hier selbst das Beispiel des Gouverneurs von Utah, der
       2022 dazu aufrief, gegen die Austrocknung des Colorado River anzubeten.
       Ihm, so schreibt sie, ist „der Gedanke, dass es sich hierbei um einen
       defizienten Problemlösungsmechanismus zweiter Ordnung handelt, aller
       Voraussicht nach völlig fremd“ – touché!
       
       Scheitert also Jaeggis Fortschrittsdefinition doch daran, dass an der
       entscheidenden Stelle die politischen Reißzähne fehlen? Gelegentlich
       schmuggelt sie Robusteres ein; dann ist die Rede von Fortschritt als
       „Emanzipationsprozess“, von „Herrschaft“ als Regression. Oder eine gute
       Problemlösung wird zu einem „rationalen Antwortgeschehen auf die bestehende
       Krise“.
       
       Sind Normen der Vernunft zeitloser als Normen der Moral? Vorstellungen von
       Rationalität scheinen doch immer ein bisschen unsere Vorstellungen von
       Rationalität zu sein. Das findet zumindest die feministische
       Wissenschaftsphilosophie und entlarvt unsere Rationalität als patriarchal
       durchsetzt.
       
       ## Ein Entzauberungsprozess
       
       Mit der Lektüre von „Fortschritt und Regression“ durchläuft man – ganz
       unpassend zur Jahreszeit – einen Entzauberungsprozess: Fortschritt muss
       prozessual statt substanziell verstanden werden, der Weihnachtsmann ist
       erfunden statt echt.
       
       Bin ich das kleine Kind, das mit dem Fuß aufstampft und trotzig behauptet:
       „Aber der Weihnachtsmann, es gibt ihn doch!“? Oder ist der
       Fortschrittsbegriff mehr wie der Weihnachtsmann als uns lieb ist? Wenn er
       nicht substanziell sein kann, dann gibt es ihn nicht.
       
       24 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /250-Jubilaeum-des-Philosophen-Hegel/!5697517
   DIR [2] /Rahel-Jaeggi-zu-Philosophie-und-Wandel/!5937545
   DIR [3] /Debatte-Entfremdung-bei-Marx/!5501103
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paula Keller
       
       ## TAGS
       
   DIR Philosophie
   DIR Fortschritt
   DIR Geschichte
   DIR Hegel
   DIR Kritische Theorie
   DIR Philosophie
   DIR Jürgen Habermas
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Rahel Jaeggi zu Philosophie und Wandel: „Eine Idee von Emanzipation“
       
       Oft bleiben Proteste in der Defensive, sagt Rahel Jaeggi. Die Kämpfe um
       Vergesellschaftung haben das Potential zu verbinden und nach vorne zu
       weisen.
       
   DIR 250. Jubiläum des Philosophen Hegel: Frischer Blick von links
       
       Der Journalist Dietmar Dath präsentiert in seinem neuen Buch die
       Philosophie Hegels. Das tut er kompakt und ohne Best-of-Zitate als Bonmots.
       
   DIR Habermas' neue Philosophiegeschichte: Angebot zur Verständigung
       
       Jürgen Habermas hat noch einmal ein gewichtiges Buch geschrieben: eine
       zweibändige Philosophiegeschichte, die auch ein Kommentar zur Zeit ist.