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       # taz.de -- Kannibalismus in den Anden: „Ein Rest Interpretation“
       
       > Regisseur J. A. Bayona verfilmt in „Die Schneegesellschaft“ einen
       > Flugzeugabsturz 1972. Ihm geht es um widersprüchliche Erinnerungen und
       > Oscarchancen.
       
   IMG Bild: Hunger und Kälte begleiteten auch die Dreharbeiten in den Anden. Szene aus „Die Schneegesellschaft“
       
       Am 12. Oktober 1972 stürzt ein Flugzeug mit einem jungen Rugbyteam an Bord
       auf dem Weg von Uruguay nach Chile über den Anden ab. Nur 29 der 45
       Passagiere überleben den Absturz und harren in Schnee und Eis mehr als zwei
       Monate auf Rettung. Die Katastrophe, bei der am Ende 16 Menschen überleben,
       wurde bereits 1993 als US-Actiondrama mit Ethan Hawke verfilmt. Nun widmet
       sich der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona dem Stoff erneut und setzt
       dabei auf Authentizität. 
       
       taz: Herr Bayona, der Flugzeugabsturz in den Anden 1972 war vor 30 Jahren
       Thema von Frank Marshalls US-Katastrophenfilm „Überleben!“ Warum wollten
       Sie die Geschichte noch einmal erzählen? 
       
       Juan Antonio Bayona: Als ich das Buch „Die Schneegesellschaft“ von Pablo
       Vierci las, war ich überrascht. Ich dachte, ich kenne die Geschichte, aber
       viele Details waren mir gar nicht bewusst. Als ich dann zum ersten Mal die
       Überlebenden traf, wurde offensichtlich, dass sie nach all den Jahren noch
       immer ein starkes Bedürfnis haben, die Erinnerung an ihre traumatischen
       Erlebnisse wachzuhalten. Einige von ihnen halten weltweit Vorträge, andere
       haben Bücher geschrieben. All das floss in unsere Recherche ein und ergab
       so ein vollständigeres Gesamtbild.
       
       Wie haben Sie dabei die Perspektive gefunden, aus der Sie die Ereignisse
       schildern? 
       
       Ohne etwas vorwegzunehmen: In den Gesprächen wurde schnell klar, worum es
       den Überlebenden ging: Die Bedeutung derjenigen zu betonen, die in den
       Bergen geblieben sind, damit der Rest es zurückschaffen konnte. Das war ihr
       Bedürfnis. Dem bin ich nachgekommen und gab ihnen eine Stimme. Ich erzählte
       die Geschichte so, wie sie es brauchten.
       
       Inwieweit unterschieden sich deren Erzählungen von dem, was Sie im Buch und
       bei den Recherchen gefunden haben? 
       
       Wir haben fast 100 Stunden an Interviews mit ihnen geführt. Und je nach
       dem, mit wem man spricht, unterscheiden sich die Erinnerungen an bestimmte
       Szenen. Wir haben dann versucht, den gemeinsamen Nenner zu finden. Aber es
       bleibt immer ein Rest Interpretation. Dieses Material war wichtige
       Grundlage nicht nur für das Drehbuch, sondern auch für die Schauspieler,
       die sich so besser in ihre Figuren hineinversetzen konnten. Sie haben im
       Vorfeld viel Zeit mit den echten Überlebenden verbracht.
       
       Auf der einen Seite ist es ein visuell spektakulär inszeniertes Epos.
       Daneben gibt es viele Szenen im Inneren des Wracks, wenn die jungen Männer
       viele Tage ausharren und traumatische Entscheidungen treffen müssen. 
       
       Da das Gleichgewicht zu finden, war eine Herausforderung. Man muss auch
       bedenken, dass Pablo Vierci, ein ehemaliger Klassenkamerad einiger der
       Überlebenden, sein Buch 36 Jahre nach dem Unfall geschrieben hat. Es gab
       also genug Abstand und Zeit zur Reflexion. Und das war es, was mich am
       meisten interessierte: Mit dem Publikum in das Flugzeug einzutauchen und
       die Fragen zu stellen, die sich die Unfallopfer selbst stellten. Ich
       versuchte eine Balance zu finden zwischen dem epischen Teil in der
       Berglandschaft und dem intimen Teil im Wrack. Für mich ist es kein
       Actionfilm und auch kein Spektakel um Kannibalismus. Ich sehe es eher als
       ein introspektives Drama.
       
       Wie gelang das konkret? 
       
       Wir haben den Film in chronologischer Reihenfolge gedreht, so konnten die
       Schauspieler die Entwicklung ihrer Figuren durchmachen. Sie haben während
       des Drehs abgenommen und viel Zeit im Freien verbracht. Fast sechs Monate
       lang. Das gab ihnen, soweit das möglich ist, ein Gefühl dafür, was ihre
       realen Vorbilder erleben mussten. Es war wichtig, dass der Film stark auf
       Sinneseindrücken basiert, um das Publikum in die Lage der Überlebenden im
       Flugzeug zu versetzen, um das Dilemma nachzuvollziehen und zu verstehen,
       warum sie taten, was sie taten, um zu überleben.
       
       Wie viele dieser Debatten über moralische Fragen basieren auf realen
       Gesprächen? 
       
       Fast alles sind tatsächlich erinnerte Dialoge, wir mussten uns kaum etwas
       ausdenken. Diese jungen Männer kamen aus guten Verhältnissen, sind alle auf
       Universitäten gegangen. Sie hatten Chancen im Leben. Jeder verteidigte
       seinen eigenen Standpunkt mit spezifischen Eigenheiten, ob der
       Medizinstudent, der Jurastudent oder der gläubige Katholik. Das war ein
       großer Reichtum, aus dem wir die Szenen entwickeln konnten, die wir dann
       mit den Schauspielern probten und umschrieben, bis sie sich richtig
       anfühlten.
       
       Wie schwierig war es dabei, den Überlebenden und ihren Erwartungen gerecht
       zu werden? 
       
       Wir standen in sehr engem Kontakt mit den Überlebenden. Ich wollte einen
       Film machen, der deutlich zeigt, was sie durchgemacht haben. Als wir uns
       gemeinsam den fertigen Film ansahen, war ich sehr nervös, denn es ist eine
       sehr unterschiedliche Gruppe mit starken Persönlichkeiten. Doch die
       Reaktion war zum Glück einhellig. Sie haben mir versichert, dass man durch
       den Film eine ziemlich genaue Vorstellung davon bekommt, was damals in den
       Anden passiert ist.
       
       Sie haben zum Teil am Originalschauplatz auf über 3.500 Metern Höhe
       gedreht. 
       
       Interessanterweise entpuppten sich viele Probleme am Ende als hilfreich.
       Weil wir in den Bergen keine Kräne oder große Ausrüstung verwenden konnten,
       wurden Szenen oft prekärer und dadurch realistischer, näher dran. Auch bei
       den Schauspielern haben die Härte der Drehbedingungen, Kälte und Hunger, zu
       ihren Leistungen beigetragen.
       
       Sie haben in spanischer Sprache mit südamerikanischen Laiendarstellern
       gedreht. Wie schwierig war es, Geldgeber davon zu überzeugen? 
       
       Wir haben viele Jahre lang versucht, diesen Film auf die Beine zu stellen,
       aber mein Entschluss, es auch sprachlich und bei der Besetzung möglichst
       authentisch zu machen, schuf bei der Finanzierung viele Probleme. Nach den
       Erfolgen mit [1][„Jurassic Park: Das gefallene Königreich“] und der
       [2][Serie „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“] vertraute man mir
       offensichtlich genug und es gab schließlich doch grünes Licht. Sonst hätte
       ich den Film nicht gemacht.
       
       Dabei haben Sie als Regisseur sowohl in Spanien als auch in Hollywood
       gearbeitet. Wo sehen Sie Ihre eigene Zukunft als Filmemacher? 
       
       [3][Die Herausforderung besteht darin, eine gute Geschichte zu finden. Sie
       muss mich aus dem Bauch heraus so anfixen,] [4][dass ich viel Energie und
       Zeit darin investieren will.] In welcher Sprache, ist dann nebensächlich.
       
       Sie sind dafür bekannt, sich in Projekte festzubeißen, auch gegen
       Widerstände. Welche anderen Geschichten würden Sie gerne noch erzählen? 
       
       Ich habe immer mehrere Stoffe gleichzeitig in der Entwicklung. Gerade
       arbeite ich an einer Adaption des Buchs von Manuel Chaves Nogales[5][, „A
       sangre y fuego“ über den Spanischen Bürgerkrieg.] Aber noch ist es zu früh,
       um zu sagen, ob das wirklich mein nächster Film sein wird.
       
       Welche Wirkung erhoffen Sie sich von Ihrem Spielfilm „Die
       Schneegesellschaft“, abgesehen vom Oscarrennen und den 14 Nominierungen für
       die Goyas, den spanischen Filmpreis? 
       
       Ganz ehrlich, ich empfinde es schon als Belohnung, dass es „Die
       Schneegesellschaft“ nun als Film gibt. Es war extrem schwierig, ihn zu
       finanzieren, und er war technisch fordernd und erzählerisch kompliziert.
       Ich wünsche mir, dass die Leute ihn jetzt sehen und dann darüber sprechen.
       Weil ich es für eine Geschichte halte, die es wert ist, erzählt zu werden.
       Bei der Premiere in Venedig haben wir durch die gute Resonanz des Publikums
       gemerkt, dass der Film funktioniert. Das gibt uns jetzt auch Hoffnung als
       spanischer Beitrag fürs Oscarrennen. Gerade zeigen wir den Film auch den
       Akademiemitgliedern und hoffen, es unter die fünf Nominierten zu schaffen.
       
       27 Dec 2023
       
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