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       # taz.de -- Lockerbie-Anschlag als Obsession: Die lange Suche des Jim Swire
       
       > Ein britischer Arzt und Familienvater verlor beim Lockerbie-Anschlag von
       > 1988 eine Tochter. Seitdem hat er sein Vertrauen in die Regierung
       > verloren.
       
   IMG Bild: Niederlande, 14.3.2022: Jim Swore (rechts im Bild) nach einer Gerichtsverhandlung in Camp Zeist
       
       Jim Swire war ein guter britischer Untertan. Er arbeitete als praktischer
       Arzt auf dem Land und zog mit seiner Frau drei Kinder groß. Swire war ein
       unpolitischer Mensch, der seiner Regierung vertraute. Am 21. Dezember 1988
       kam ihm dieses Vertrauen für immer abhanden.
       
       Am Londoner Flughafen Heathrow bestieg seine Tochter Flora die
       Pan-Am-Maschine 103. Flora war auf dem Weg zu ihrem Freund in Amerika. 38
       Minuten nach dem Start explodierte das Flugzeug über der schottischen Stadt
       Lockerbie. An Bord waren 270 Menschen (darunter 4 Deutsche), die sofort
       starben. Getötet wurden auch 11 Einheimische von Lockerbie. Über Nacht
       wurde die kleine Stadt zu einem überdimensional großen Tatort, den hunderte
       von schottischen Polizisten und FBI-Beamten absuchten. Noch Wochen später
       fanden Bauern Koffer und Kinderspielzeug auf ihren Feldern.
       
       Die Nacht des 21. Dezember 1988 veränderte Jim Swires Leben grundlegend.
       Seit 35 Jahren versucht er nun herauszufinden, warum seine Tochter sterben
       musste. Er ist mittlerweile 87 Jahre alt und erinnert ein wenig an Heinrich
       von Kleists Figur Michael Kohlhaas. Wie Kohlhaas ist Swire ein obsessiver
       Mensch geworden. Er will Gerechtigkeit um jeden Preis, und aus diesem Grund
       hat er sich in den letzten Jahrzehnten viele einflussreiche Feinde gemacht.
       
       ## Hinterbliebene vom Geheimdienst beobachtet
       
       Wie schwer seine Suche nach der Wahrheit werden würde, zeigte sich schon
       kurz nach dem Anschlag: In die Gruppe der Lockerbie-Hinterbliebenen schlich
       sich eine MI5-Agentin ein, die vorgab, ihren Freund verloren zu haben.
       Später tauchte ein Professor Andrew Fulton auf, der juristische Hilfe bei
       der Prozessvorbereitung anbot. Auch Fulton entpuppte sich als britischer
       Geheimdienstagent. Jim Swire lernte daraus, nur noch wenigen Menschen zu
       vertrauen. Am allerwenigsten seiner eigenen Premierministerin Margaret
       Thatcher.
       
       Weder Thatcher noch der damalige Präsident George Bush sen. schienen
       Interesse an einer ernsthaften Aufklärung des Lockerbie-Falls zu haben. Ein
       Grund dafür war das offensichtliche Versagen ihrer eigenen
       Nachrichtendienste. Wenige Wochen vor dem Anschlag waren mehrere
       ernstzunehmende Warnungen eingegangen, dass eine Splittergruppe der
       Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO eine Bombe auf einen Flug von
       Frankfurt nach New York schmuggeln würde.
       
       Fast zeitgleich hatte das BKA in einer Neusser Wohnung Kassettenrekorder
       mit eingebauten Bomben gefunden, die von der Volksfront zur Befreiung
       Palästinas hergestellt worden waren. Jim Swire vermutet, dass es eine
       dieser Kassettenrekorderbomben war, die seine Tochter töteten. Er glaubt,
       dass die Bombe beim Zwischenstop in Heathrow an Bord gelangte.
       
       Als der britische Verkehrsminister ihn belehrte, dass so etwas wegen der
       ausgezeichneten Sicherheitsvorkehrungen völlig unmöglich wäre, beschloss
       Swire kurzerhand kriminell zu werden. Er schmuggelte eine selbstgebastelte
       Bombenattrappe an Bord und flog damit von London nach New York. Niemand
       hielt ihn auf.
       
       ## Bauernopfer aus Libyen
       
       Noch mehr Aufregung verursachte Swire, als er kurzerhand nach Libyen
       reiste, um mit Gaddafi zu reden. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Iran als
       Auftraggeber des Anschlags vermutet, doch 1991 deutete plötzlich alles auf
       Libyen hin. Am Ende wurde der [1][libysche Nachrichtendienstler Abdelbaset
       al-Megrahi von einem schottischen Gericht für den Mord an 270 Menschen
       verurteilt].
       
       Swire war darüber nicht glücklich. Megrahi wäre nur ein Bauernopfer gewesen
       und die Schuldigen wären bis heute nicht gefunden. Er hat ein Buch über den
       Fall geschrieben und hofft jetzt auf die Freigabe von 50 Akten. Ob die
       britische Regierung sie jemals veröffentlicht wird, ist jedoch fraglich.
       
       Swires Kampagne hat zumindest eines bewirkt: Die Sicherheitsvorkehrungen an
       britischen Flughäfen haben sich seit seinem Stunt mit der Bombenattrappe
       verbessert. Das wird in den nächsten Jahren auch dringend nötig sein. Denn
       [2][seit dem 7. Oktober 2023 sind sie alle wieder da – die alten und die
       neuen Terroristen]. Sie brauchen keine Kassettenrekorder mehr. Sie können
       sich bei ihrer Arbeit auf neue Technologien und viele enthusiastische
       Sympathisanten verlassen.
       
       2 Jan 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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